Frau Hartwig, Sie befürchten eine völlige Umstrukturierung des deutschen Gesundheitswesens. Woran machen Sie diese Befürchtungen fest?

Daran, dass es jetzt auch im Gesundheitswesen offensichtlich nur noch um Gewinne und Verluste geht, anstatt um die Menschen und die Medizin. Die wohnortnahe Versorgung von kranken Menschen durch freie niedergelassene Ärzte wird durch Bürokratisierung und finanziellen Druck zunehmend gefährdet. Es zählt der Kommerz und nicht der Patient.

Sie sprechen bei Ihren Veranstaltungen und schreiben in Ihren Publikationen vom "Ausverkauf des Gesundheitswesens an die Gesundheitsindustrie" und an "Heuschreckeninvestoren". Was meinen Sie damit?

Ich kritisiere, dass Investoren Arztpraxen aufkaufen und sogenannte Medizinische Versorgungszentren (MVZ) einrichten. Es handelt sich um Investoren, die aus dem Gesundheitsmarkt Kapital schlagen. Der erste Schritt zum Verkauf unseres Gesundheitswesens wird über Klinikübernahmen an Kapitalgesellschaften lanciert. Die Rhön AG etwa, die in Bayern etliche Kliniken betreibt, hat ihre Wachstumspläne konkretisiert und spricht offen von dem Ziel, die ambulante Versorgung der Patientinnen und Patienten zu übernehmen.

Warum werfen Sie dieser "Gesundheitsindustrie" Gier vor?

Weil sich diese Kapitalgesellschaften mit einem sozialen Mäntelchen tarnen, aber in Wirklichkeit nur auf Gewinn aus sind. So wird dann Gesundheit zur Ware und der kranke Mensch zum Wertschöpfungsobjekt. Da läuft es einem eiskalt den Rücken hinunter, wenn man begriffen hat, was sich da tut. Wir werden in Zukunft Ärzten gegenübersitzen, die sich mehr für die Profitinteressen der Investoren interessieren als für uns als Patienten.

Wem lasten Sie denn diese gravierenden Fehlentscheidungen an?

Der Politik, den Lobbyisten und dem Management der Investoren. Jahr für Jahr vollziehen sich unter den politischen Rahmenbedingungen, wie sie derzeit herrschen, schleichende Veränderungen in unserer Gesundheitsversorgung. Kommunale Krankenhäuser und Universitätskliniken machen Defizite und werden ohne politisches Engagement für die Erhaltung von öffentlichen Gesundheitseinrichtungen an Klinikkonzerne und private Investoren verkauft. Die Investoren erwirtschaften Millionengewinne auf dem neu geschaffenen Gesundheitsmarkt. Das geschieht auf Kosten der kranken Menschen, der Solidargemeinschaft und der sich aufopfernden Mitarbeiter in Kliniken.

Es geht Ihnen aber nicht nur um die Veränderungen im Bereich der Kliniken, sondern auch um die Probleme der niedergelassenen Ärzte.

Seit ich in der Praxis meines Hausarztes erleben musste, wie er ausgebeutet wird, kämpfe ich auch für die Sache der niedergelassenen Ärzte. Ich halte es für einen Demokratie- und Freiheitsskandal erster Ordnung, wie man die Ärzte mit einer zynischen Erdrosselungspolitik ans Messer liefert. Ich kämpfe dafür, dass die Waagschale nicht zulasten sozial schwacher, kranker und behinderter Menschen in unserem Land kippt.

Sie meinen, dass die Bürgerinnen und Bürger für dumm verkauft werden.

Gezielte Desinformationen prägen die Berichterstattung in den öffentlichen Medien und Meinungen über die Ziele der aktuellen Gesundheitsindustrie. Die eigentliche Sachlage bleibt ungeklärt. Ich frage bei meinen Vorträgen die Zuhörer: Ist Ihnen das Ausmaß der Misere bewusst? Hat man Sie zu den Veränderungen befragt? Ist das eine Politik in Ihrem Sinne? Wissen Sie, was mit Ihren Krankenkassenbeiträgen passiert?

Es ist eine schwierige Materie, und die Menschen glauben sicherlich, dass sie ohnehin nichts ändern können.

Die Politiker, Lobbyisten und das Management der Investoren fürchten auf dem Weg zur Vermarktung des Gesundheitswesens nichts mehr als einen Schulterschluss von informierten Bürgerinnen und Bürgern. Seit Juli 2008 ist es mir gelungen, in über 472 Städten monatliche Bürgertreffen zu aktivieren, die sich der Thematik "Wir sind als Kranke keine Ware" annehmen. Dieses solidarische Handeln gibt Kraft, gegen die Missstände aufzustehen. So wird aus dem Ich ein Wir.

Das Gespräch führte Christl Schemm.