Er sei gewachsen in diesen sieben Wochen. "Jeder Tag war eine Herausforderung. Jedes Gespräch ging tief und war wirklich wichtig." Wenn er in Zell aufwache, wisse er, was kommt. Und die Probleme zu Hause erscheinen ihm beliebig. "Aber ich komme schon wieder rein in den Alltag", sagt er und grinst. Den Small Talk, der ihn frustrierte, hat er auch schon wieder einigermaßen drauf.
In Calais war das anders. Dort ging es um Krieg, verstörte Kinder, tote Freunde, um Gott und um Allah. Er betete für andere, manchmal erst nach langer Überredungskunst. "Aber die meisten Muslime haben dann erkannt, dass mein Gebet mit einer guten Absicht verbunden war, auch wenn ich zu Jesus betete." Das Miteinander sei allen wichtiger gewesen. Das galt auch für die Helfer. Dort waren Alte und Junge, Christen und Atheisten. "Und die meisten Freiwilligen kamen aus Großbritannien", erzählt Oberländer. Also aus jenem Land, das den Flüchtlingen in Calais mit seiner restriktiven Politik das Leben schwer mache.
Johannes Oberländer weiß nicht so recht, auf welche Seite er sich stellen soll. Er versteht die Länder, die Ordnung in ein Chaos bringen wollen, und er versteht jeden Menschen, der aus Elend und Krieg flüchten will. Auch Flüchtlinge verstünden durchaus, die Perspektive zu wechseln - wenn auch vereinzelt in verwundernder Manier. "Wenn ich ein Lkw-Fahrer wäre, und ein Flüchtling würde auf meinen Laster springen, ich würde ihn verprügeln." Das habe ihm ein Afghane offenherzig erzählt.
"Jedenfalls war ich immer froh, wenn es einer geschafft hat, an sein Ziel zu kommen", sagt der junge Zeller. Und ein Bild wird nie aus seiner Erinnerung schwinden: "Wenn an der Grenze ein Stau entstand, schrieen alle ,Chance, Chance, Chance', rannten zum Zaun an der Straße und rissen ihn nieder."
Die meisten Muslime haben erkannt, dass mein Gebet mit einer guten Absicht verbunden war. Johannes Oberländer, Flüchtlingshelfer
Niemand bringt ihnen Wertschätzung entgegen und redet einfach mit ihnen. Johannes Oberländer, Flüchtlingshelfer
Das Nadelöhr vor Großbritannien
Schon seit Jahren ist Calais das vorläufige Ziel von Flüchtlingen, die nach Großbritannien gelangen wollen - woran sie auf Betreiben von London gehindert werden. Die Zahl der Menschen, die dort in einem Lager leben, schätzen Regierung und Hilfsorganisationen auf 7000 bis 10 000. Die Flüchtlinge versuchen in Calais auf Lastwagen oder Fähren zu steigen, um nach England übersetzen zu können. Dazu greifen sie auch zu Mitteln, die auf heftigen Protest stoßen. Unter anderem legen sie auf Straßen Baumstämme quer, um die Lkw zu stoppen und so auf sie steigen zu können. Dagegen haben Lkw-Fahrer und Einwohner von Calais wiederholt demonstriert. Andererseits prangern Helfer die Zustände in dem Lager an, das despektierlich "Dschungel" genannt wird. So mangele es bei der Hygiene, auch die Versorgung der Menschen sei unzureichend. Vermehrt komme es wegen der drangvollen Enge zu Ausbrüchen von Gewalt. Die französische Regierung will das Lager schrittweise räumen. Eine radikale Lösung haben die Briten geplant. Sie wollen in der Verlängerung des Zaunes am Eurotunnel eine meterhohe Betonmauer hochziehen, um die Verkehrswege nach außen abzuschotten.