Auf der letzten Seite rechnet der Autor alles zusammen, was er seit dem ersten Schritt geleistet und gelassen hat: "Hamburg-Altötting fünfunddreißig Tage, etliche Umwege, achthundertfünfundfünfzig Kilometer, zwei Handschuhe verloren, immer den rechten, unterwegs diverse Malaisen und jetzt der Fuß, der seit Tagen so weh tut." Ermüdungsbruch. "Der zweite Mittelfußknochen rechts" ist entzwei, hat der Leser gleich auf Seite eins erfahren.

Den ersten Schritt tat Willi Winkler gegen Ende des Jahres 2013. Im September davor hatten die Deutschen die FDP aus dem Bundestag hinausgewählt. "Meine Freude", schreibt der renommierte 57-jährige Publizist, "war riesengroß, das Vertrauen in die parlamentarische Demokratie wiederhergestellt." Nach demütigem Dank verlangt solches Glück. Schon zwanzig Jahre zuvor hatte Winkler gelobt, er werde, falls die Liberalen je das Bundesparlament verlassen müssten, von Hamburg nach Altötting zur Schwarzen Madonna wallfahrten; kein Glaubensbekenntnis; eher ein Scherz. Aber nun machte er Ernst aus ihm.

"Deutschland, eine Winterreise": Nach Lüneburg und Halberstadt, Aschers- und Eisleben führte ihn die Fußtour, auch nach Regensburg, Landshut ... Sinnenscharf beobachtet und belauscht, lassen sich zahllose Erlebnisse, nebst allerlei literatur-, kulturgeschichtlichen und zeitkritischen Exkursen, in einem gescheit und gewandt erzählten Buch nachlesen. Noch erfreulicher wäre es geraten mit etwas weniger Überlegenheitsgefühl über die "dampfende Trübsal" der sogenannten Provinz.

In dem Buch steht auch, dass Winkler "die Winterreise, die ich gefürchtet, auf die ich gehofft hatte", in Hochfranken fand, "endlich". Zwar meint er skeptisch: "Es muss gute Gründe geben, dass sich einer hier niederlässt." Dann aber besteigt er den Großen Waldstein. "Unten in Schwarzenbach" - wo er an den Gräbern von Jean Pauls Vater und Dr. Erika Fuchs verweilte - "ging es eben noch an aufgelassenen Fabrikgebäuden vorbei." Dann verlieren sich die "Zivilisationssignale" unversehens. "Der Schnee schluckt alles", und eine unmittelbare Nähe spürt der Fußgänger zur "Schöpfung, die sich so anstrengt, für ein paar Stunden wenigstens einen Urzustand zu simulieren. Der Pilger hat jetzt den höchsten Punkt seiner Reise erreicht" und findet "die Aussicht auf die rauchenden Kämme des Fichtelgebirges so erhaben, dass ich gar nicht mehr wegwill".

Vom Gedenken an Jean Paul begleitet, lässt er natürlich auch Joditz und Wunsiedel nicht links liegen. Dort, im Café Luitpold, hört er einer Stadtratskandidatin zu; in Bad Alexandersbad fühlt er sich an mondäne Kurgäste wie die Preußenkönigin Luise erinnert. Seit er, von Thüringen aus, die Grenze nach Franken überschritten hat, kommen ihm "die Leute mitteilsamer, weniger misstrauisch" vor - so urteilt wahrlich nicht jeder über den Menschenschlag in Bayerns Nordosten.

Dennoch: Töpen - "gespenstisch leer"; Joditz - "mausetot, die Leute werden zu Hause sitzen und sich beim Fernsehen müde trinken". Immerhin lebt dort Eberhard Schmidt, der sich "die allergrößte Mühe gibt, als raubauziger Wächter seines 'Schambaul' zu erscheinen", und "aus jedem Handgelenk sofort zwei Dutzend schöner Jean-Paul-Sätze schüttelt".

An der Saale, an der einstigen Scheidelinie zwischen Ost und West, erlaubt Winkler einem Jogger, allen Hiesigen aus dem Herzen zu sprechen: "Ich versteh' gar nicht, warum die Leute immer so weit wegfahren müssen. Bei uns ist es doch auch schön, es weiß bloß keiner." Allerdings kann Hof dem Weitwanderer nicht gefallen: Als er die Silhouette der Stadt zu Gesicht bekommt, sieht er "schon beim ersten Anblick den Rang Braunschweigs als bisher hässlichste Stadt gefährdet". Schade. Nach Beachtenswertem scheint Winkler nicht gesucht zu haben. Vielleicht tat ihm ja, nach mehr als der Hälfte seines Marsches, ausgerechnet hier der "ermüdete" Fuß zum ersten Mal weh. Michael Thumser

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Willi Winkler: Deutschland, eine Winterreise. Rowohlt-Verlag, 171 Seiten,

gebunden, 18,95 Euro.