Erlangen - Sich ganz beschaulich an literarische Weltneuheiten annähern, mit dem Weizenglas in der Hand entspannt auf der Bierbank in der Sonne sitzen und zu den Worten der Schriftsteller den würzigen Duft vom Bratwurststand nebenan einatmen - zumindest am Samstag hat das beim Erlanger Poetenfest wieder funktioniert. Am Sonntag mussten sich die Bücher-Fans bei Dauerregen dann zwar in die Gebäude rund um den markgräflichen Schlossgarten flüchten, das Interesse an den Lesungen, Autorenporträts und Diskussionen war dennoch ungeschmälert.

Das Regengrau des Sonntags passte dabei zu den meisten Werken viel besser als die spätsommerliche Garten-Leichtigkeit des Samstags, denn es geht in vielen der aktuell auf den Buchmarkt drängenden Romane um Ernstes. Neben der Erinnerung an den Ausbruch des Ersten Weltkriegs vor hundert Jahren nahmen die Themen Flucht und Vertreibung in den verschiedensten Facetten einen wichtigen Raum ein. Das Erlanger Poetenfest, seit 1980 der bundesweite Auftakt zum Bücherherbst und mit mittlerweile rund 12 000 Besuchern eine der wichtigsten literarischen Schaubühnen der Republik, setzte ein weiteres Mal nicht auf leicht verdauliche Kost.

Trauma der Opfer

Gleich zum Auftakt des Lesenachmittags macht Ulrike Draesner mit ihrem Buch "Sieben Sprünge vom Rand der Welt" deutlich, wie hartnäckig sich das Trauma der Vertreibung in den Opfern festsetzt, wie die erlittenen Beschädigungen der Seele auch noch an Kinder und Kindeskinder weitergegeben werden. Oft nicht einmal durch die Erzählungen, sondern durch das beharrliche, undurchdringliche Schweigen über die Vergangenheit.

Lutz Seiler schickt in seinem famosen Debüt "Kruso" seinen Helden Edgar Bendler in den letzten Tagen der DDR auf die Ostsee-Insel Hiddensee. Für Bendler ist es der Fluchtpunkt aus einem Alltag, den er nicht mehr erträgt. Für andere ist die Insel, von der aus man bei gutem Wetter Dänemark sehen kann, der Ort, an dem sich ihre Fluchtpläne endlich realisieren sollen, und der Startpunkt nicht selten tödlicher Verzweiflungsakte.

Nach Freiheit schreit auch der deutsche Aussteiger Albert, der in Sherko Fatahs Roman "Der letzte Ort" von radikalen Entführern im Irak festgehalten wird. Fatah, in Berlin gebürtiger irakischer Kurde, schmiedet ein sensibles Psychogramm zwischen dem Entführten und dem Übersetzer Osama, der - selbst ein Opfer der politischen Wirren - zu Alberts Brücke in eine fremde Kultur wird, zur letzten Hoffnung in der Hoffnungslosigkeit.

Viel näher und doch erstaunlich fremd sind dem Leser die Figuren aus Ricarda Junges "Die letzten warmen Tage". Gut gestellte Jugendliche aus den besseren Vierteln der Wohlstandsoase Wiesbaden fliehen aus ihrer Langeweile - und wenden sich rechtsextremen Gedanken zu. Die mentale Verwahrlosung, die Eltern und Lehrer konsequent ignorieren, verflicht die Autorin geschickt mit einer Familiengeschichte, in der die Flucht des Großvaters aus der DDR eine zentrale Rolle spielt.

"Alkohol, in irgendeiner Form, war immer verfügbar", sagt Peter Wawerzinek. Der in der DDR aufgewachsene Autor hat nach dem Bestseller "Rabenliebe" über das Verhältnis zu seiner Mutter nun in "Schluckspecht" seine Flucht in den Alkohol und dann seine Flucht aus der Sucht thematisiert. Amüsant, fast schon komödiantisch beleuchtet er seine Trinker-Karriere, belustigt das Publikum mit seiner gekonnten Lesung. Aber: Richtig zum Lachen ist das nicht. Wawerzinek fasst es so zusammen: "Steter Tropfen höhlt das Hirn."

Um Fluchten aus der Realität des Erwachsenwerdens geht es in Lisa Kränzlers Roman "Lichtfang", um die Sehnsucht nach neuen Anfängen in John von Düffels "Wassererzählungen". Und Karen Köhler beschreibt in ihrem Erzählband "Wir haben Raketen geangelt" mit fröhlicher Melancholie Charaktere, die durch allerlei Zufälle aus der Gewissheit ihres Alltags vertrieben werden und sich als Meisterinnen des Überlebens bewähren müssen. Oder, gerade durch die unprätentiöse Schreibweise anrührend, freiwillig den Tod wählen.

Navid Kermani, Sohn irakischer Eltern und im Mai durch seine versöhnende und zugleich zornige Rede zum 65. Jahrestag des Grundgesetzes aufgefallen, ist - neben Ulla Hahn und Joachim Sartorius - eines der großen Autorenporträts des Poetenfestes gewidmet. In seinem neuesten Werk "Große Liebe" begleitet er einen verliebten Fünfzehnjährigen durch irdische und göttliche Seelenlandschaften, die fast unbemerkt Kulturen und Jahrhunderte überbrücken.

Der größte Star der insgesamt neunzig Veranstaltungen in Erlangen ist jedoch diesmal ein Mann, der sein Leben nicht mit Schreiben verbracht hat: Michael Ballhaus, Hollywood-Kameramann mit fränkischen Wurzeln, rechte Hand unter anderem von Fassbinder, Scorsese, Ford Coppola und Redford. Mittlerweile von einer Augenkrankheit fast völlig um seine Sehkraft gebracht, hat er seine Memoiren niedergeschrieben, über die er charmant und enorm bescheiden plaudert. Und er berichtet von einer - notgedrungen gemachten - Entdeckung, die dann doch wieder gut zum Poetenfest passt: seiner neuen Leidenschaft, die Welt durch Hörbücher neu zu erkunden.

Steter Tropfen höhlt das Hirn.

Peter Wawerzinek, Autor des Buches

"Schluckspecht".

Wir haben Raketen geangelt.

Buchtitel von Karen Köhler