Marktleugast - Auslöser des kreativen Schubs war indirekt ein Schlaganfall, den er im Jahr 2001 erlitt. Als die Folgen überwunden waren, sagte er sich: "Jetzt fang ich nochmal zu leben an." Im Grunde nahm er nur Fäden von früher wieder auf. Denn schon in seiner Bremer, Berliner, Coburger und Bamberger Zeit waren gelegentlich Collagen und Gedichte entstanden. Aber so richtig "gekünstlert" hatte der zwei Tage nach Kriegsende in Bad Salzuflen geborene Sigi Hirsch nie. Verleger und Veranstalter, Manager und Buchhändler war er gewesen. Sein erstes Projekt, eine Schülerzeitung, führte dazu, dass er von einer Schule flog, weil in einem Gedicht das Wort Schamhaar vorkam.

Die mittlere Reife schaffte er trotzdem. Danach ging er bei den Bremer Nachrichten als Verlagskaufmann in die Lehre und wurde nebenbei als Deutschlands jüngster Verleger aktiv: Seine "macabre Zeitschrift" total veröffentlichte Bilder und Texte mit satirischem Einschlag. Als im Januar 1966 die Strichzeichnung einer nackten Frau abgedruckt wurde, war die Oberpostdirektion Bremen schockiert und verweigerte den Versand des Blattes. Der Vorfall erregte riesiges Aufsehen als "Zensur-Skandal". Die Wochenzeitung Die Zeit berichtete, im Bremer Theater wurde von der Bühne herab eine Protesterklärung verlesen.

Sigi Hirsch, der bald darauf nach Berlin wechselte und zwei Jahre lang in der Anzeigenabteilung des Springer-Verlags tätig war, profitierte davon. Viele Türen öffneten sich ihm, prominente Autoren wie Kästner, Fried und Walter Mehring lieferten Texte für seine Zeitschrift. Auch mit Grass und Rühmkorf, Wolfgang Neuss und Enzensberger, Beuys und Timm Ulrichs hatte er Kontakt. Doch alle Freund- und Bekanntschaften konnten nicht verhindern, dass das Blatt nach fünf Jahren am Ende war: Die letzte Ausgabe hieß "total kaputt".

Hirsch, inzwischen zum staatlich geprüften Betriebswirt fortgebildet, wechselte von Springer zu einer Werbeagentur, bei der er als Manager des "Jerry Cotton"-Autors Heinz Werner Höber fungierte. 1976 lockte ihn Oberfranken: Beim Coburger Tageblatt stieg er rasch zum Verlagsleiter auf. Er gründete einen Jugendpresseclub, organisierte Lesungen und Konzerte - die Auflage stieg. Aber: "Sigi ist ein Freigeist, der nicht fremdbestimmt arbeiten kann", sagt Gabriele Hainke-Hirsch, eine Lehrerin, die 2004 seine vierte Ehefrau wurde und ihn ins ländliche Eppenreuth holte, wo ihr Elternhaus steht. Und weil Sigi so ist, wie er ist, musste er 1981 wieder etwas Neues anfangen. Er übernahm die Albrechtsche Hofbuchhandlung, interessierte sich besonders für antiquarische Bücher und wurde der Fachmann für das Haus Sachsen-Coburg-Gotha.

Sein Spezialwissen führte dazu, dass er 1999 - er war inzwischen nach Bamberg übergesiedelt - auf die Titelseite der Londoner Times geriet. Denn aus dem verschollen geglaubten Nachlass der Erzieherin von Queen Victoria war ihm ein kleines rotes Album in die Hände gefallen. Es enthielt Briefe und Zeichnungen, Orangenblüten vom königlichen Brautkranz und eine 160 Jahre alte blonde Locke vom Haupt der Monarchin. Hirsch vermarktete seinen Fund mit einem Buch über das Album. Als ihn Prinz Michael von Kent nach London einlud, waren Fernsehsender aus aller Welt zur Stelle. Und die Times berichtete.

Die Süddeutsche Zeitung auch. Unter der Überschrift "Aus dem Leben eines Geistesmenschen" druckte sie im März 2001 eine ganzseitige Reportage über Sigi Hirsch. Just zu jener Zeit setzte ihn ein Schlaganfall außer Gefecht. Freilich nur vorübergehend: Hirsch stand wieder auf, wagte sich mit Improvisationstheater auf die Bühne und heimste beim Poetry Slam - gelegentlich als Partner von Nora Gomringer - Preise ein. Als Kabarettist tourte er mit dem Programm "Bitte nicht küssen", einem humorvollen Kuss-Seminar und zugleich "Anleitung zur erotischen Unzufriedenheit", erfolgreich durch Oberfranken.

Auch sein erstes kleines Buch, das "kriminelle Gedichte und Geschichten" präsentierte, kam gut an. Auftrieb gab dem Autor eine positive Besprechung in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: "Der Sprachwitz sticht zu." Hirsch ließ zeitkritisch-satirische Nonsens-Krimis um einen Kommissar Wickelkraut folgen; nach dem "Kartoffelmord" und dem "Mantelmord" ist der dritte Band in Arbeit - er wird "Der Nudelmord" heißen. Als bildender Künstler, der in Bamberg eine eigene kleine Galerie namens "PoetryArt" besitzt, durfte der Multitalentierte im Sommer 2011 in der Bibliothek der Freien Universität Berlin ausstellen. Der Kunsthistoriker Dr. Matthias Liebel wies in seiner Laudatio auf die "Verselbstständigung der gestalterischen Mittel" hin.

Sigi Hirsch selbst sagt, seine Malerei sei das Ergebnis eines gleichermaßen von Glücksfällen und Tiefschlägen gekennzeichneten Lebens. Derzeit sind Arbeiten von ihm in der Reihe "Kunst im Treppenhaus" bei Karstadt in Bamberg zu sehen. Titel der Schau: "Das collagierte Ich".

Werkstatt


Ein Freigeist, der nicht fremdbestimmt arbeiten kann.

Ehefrau Gabriele Hainke-Hirsch