So!: Herr Dr. Asserate, wie hätten Sie reagiert, wenn ich zu spät zu unserem Treffen gekommen wäre und Sie, sagen wir mal, 15 Minuten hätte warten lassen?
Asfa Wossen Asserate: Ich glaube, dass unsere Zeit derartig hektisch ist, dass man nicht immer pünktlich sein kann. Ich wäre nachsichtig mit Ihnen.
So!: Ich hoffe, es zeugt nicht von schlechten Manieren, wenn ich Sie mit „Herr Dr. Asserate“ anspreche – oder sollte ich doch besser „Eure Hoheit“ sagen?
Asserate: Bitte sprechen Sie mich mit dem Titel an, den ich mir selbst hart erarbeitet habe, dem Doktortitel. Das ist völlig korrekt.
So!: Was ist denn nun gutes Benehmen?
Asserate: In erster Linie die Tatsache, dass ein Mensch sein Gegenüber ins Zentrum rückt – und nicht sich selbst. Dass es dem anderen gut geht, muss wichtiger sein als mein eigenes Wohlgefühl. Man kann es auch mit dem christlichen Gebot der Nächstenliebe formulieren: Du sollst Deinen Nächsten lieben, wie Dich selbst.
So!: Sie haben ein Buch über „Manieren“ geschrieben. Warum war das nötig?
Asserate: Ich habe es geschrieben, weil ich der Meinung war, dass man in diesem Land Werte und Tugenden, die in den vergangenen Jahrhunderten hier und in Europa hervorgebracht wurden, vernachlässigt hat. Sie werden in meinem Buch jedoch keine einzige „Benimmregel“, getreu dem Motto: „Du sollst dies, das und jenes tun oder lassen“ finden. Das Buch ist vielmehr ein Rückblick auf das gesellschaftliche Wertegerüst der vergangenen Jahrhunderte und die Aufforderung dazu, dieses nicht völlig in Vergessenheit geraten zu lassen.
So!: Was vermissen Sie, wenn Sie andere Menschen im Umgang miteinander erleben, am meisten?
Asserate: Demut.
So!: Woran liegt es, dass gepflegte Umgangsformen immer mehr in den Hintergrund rücken?
Asserate: In erster Linie hat das mit unserer aller Egozentrik zu tun. Wir sind zu Ich-bezogen. Uns gehen die Gefühle anderer Menschen immer weniger an. Wir leben nach dem Motto: Alle denken an sich – nur ich denke an mich. Man kümmert sich nicht mehr um andere Menschen. Wie könnte es sonst sein, dass eine ältere Dame sechs Wochen lang tot in ihrer Wohnung liegt, ohne dass es jemandem auffällt? Manieren sind weit mehr als das Wissen darum, welche Schuhe zu welchem Anzug passen. Manieren sind zunächst eine innere Haltung, unsere Moral, Würde, die sich im äußeren Ausdruck manifestiert. Form und Inhalt sollten eine Symbiose bilden.
So!: Tragen die Medien eine Mitschuld an dieser Entwicklung?
Asserate: Medien sind ein Spiegelbild unserer Gesellschaft – liefern aber auch Vorbilder. Das steht in Wechselwirkung. Aber grundsätzlich möchte ich sagen, dass Fernsehsendungen à la „Dschungelcamp“ wohl jeglichen Respekt vor der Menschenwürde vermissen lassen. Wir brauchen andere Vorbilder. Das ist es doch, was wir vermissen. In Politik und Gesellschaft muss man sie mit der Lupe suchen.
So!: An welche Vorbilder denken Sie konkret?
Asserate: An Menschen wie Nelson Mandela zum Beispiel. Dieser Mann ist für mich ein ganz großes Vorbild – und er ist es heute noch und wieder für viele andere Menschen, besonders für junge.
So!: Welche Vorbilder hatten Sie in Ihrer Kindheit und Jugend? Wo haben Sie Ihre perfekten Umgangsformen erworben?
Asserate: Große Vorbilder waren mein Vater und Großvater. Umgangsformen habe ich von früh auf, innerhalb meiner Familie erlernt. Man kann gar nicht früh genug damit anfangen, seine Kinder dahin gehend zu erziehen. Wie die Jesuiten zu sagen pflegten: „Gebt uns einen Jüngling mit acht und wir geben Euch einen Katholiken für die Ewigkeit.“
So!: Im Idealfall leben Eltern ihren Kindern gutes Benehmen vor. Aber in vielen Fällen sind sie damit heutzutage völlig überfordert. Sollten „Manieren“ auf dem schulischen Lehrplan stehen?
Asserate: Wer sollte das machen? Die Lehrergeneration etwa, die sich vor 40 Jahren, in der 68er Bewegung, vom „Korsett“ scheinbar überkommener Werte befreite und es zum Fenster hinauswarf? Ich bin der Überzeugung, dass Erziehung auch weiterhin ein Privileg der Eltern bleiben wird und bleiben muss.
So!: Helfen gute Umgangsformen, sich in der Welt zurechtzufinden? Worauf muss man auf internationalem Parkett besonders achten?
Asserate: Es gibt universelle, international akzeptierte Umgangsformen, dazu zählen Werte und Tugenden wie Anstand, Höflichkeit, Aufmerksamkeit und Respekt vor dem Alter. Es gibt wohl in keinem Land der Welt ein Gesetz, das lautet: „Sei nicht nett zu deinem Nachbarn“. Nur die Sitten sind nicht kongruent. Ich empfehle: Machen Sie sich, bevor Sie in ein fremdes Land reisen, kundig, welche Sitten dort herrschen und welche Tabus nicht verletzt werden dürfen.
So!: Welche Fehltritte können Sie verzeihen?
Asserate: All jene, die nicht mit Bewusstsein, nicht mit böser Absicht geschehen.
So!: Und was ist für Sie absolut unverzeihlich?
Asserate: Alles, was in irgendeiner Form die Würde des Menschen verletzt.
So!: Lassen Sie uns doch noch auf die „äußere Form“ zu sprechen kommen. Was ist in Ihren Augen die größte Kleidersünde bei Frauen und bei Männern?
Asserate: Hohe Plateausohlen und derbe Sportschuhe bei Frauen; bei Männern ist es die Kombination von Joggingschuhen und Anzug.
Interview: Sabine Raithel
KURZ & KNAPP
Dr. Asfa Wossen Asserate, Prinz aus dem äthiopischen Kaiserhaus und Großneffe des letzten äthiopischen Kaisers Haile Selassie, wurde 1948 in Addis Abeba geboren. An der dortigen Deutschen Schule bestand er als einer der ersten Äthiopier das Abitur. In Tübingen und Cambridge studierte er Geschichte und Jura. Die Promotion folgte in Frankfurt am Main. Die Revolution in Äthiopien machte seine Pläne, in die Heimat zurückzukehren, zunichte. Er blieb in Deutschland und arbeitete als Journalist und Pressechef der Düsseldorfer Messe. Heute ist er als Unternehmensberater für Afrika und den Mittleren Osten sowie als Autor tätig. Seine Bücher „Manieren“ und das autobiografische Werk „Ein Prinz aus dem Hause David“ führten lange die Bestsellerlisten an.