Doch seit mehr als drei Jahrzehnten schreibt der jetzt 63-jährige Autor, der als Kind häufig seine Großeltern in Hof besuchte und in dieser Stadt zwei Mal mit Lesungen gastierte, auch Gedichte, erweist also der "Königsdisziplin" der Poesie seinen Respekt. Tatsächlich durchzieht die Spannung zwischen Prosa und Lyrik sein gesamtes literarisches Werk. Jetzt überrascht der Verlag Hoffmann und Campe mit einer Ausgabe seiner sämtlichen Gedichte – in einem Wälzer, der mehr als 600 Seiten umfasst.

Kann man das überhaupt lesen? Lyrik ist ja grundsätzlich eine schwere Kost, geprägt von Innerlichkeit, und was nach außen drängt und dringt, ist oft nur schwer zu verstehen. Polityckis Werk bildet eine rühmliche Ausnahme. Der durch die ARD-Sendung „Druckfrisch“ bekannte Kritiker Denis Scheck sagte dem Autor schon im Jahr 2000 nach, er schreibe so „realiengetränkt“ wie kein anderer hierzulande. Und Politycki selbst bekennt im Nachwort der jetzt vorgelegten Gedichtsammlung, dass er schon beim Schreiben an den Leser denke. Das freilich war nicht immer so, fing er doch mit sprachlichen Experimenten an, ehe er eine Kehrtwendung vollzog und in einem Essayband für „eine neue deutsche Lesbarkeit“ plädierte.

Auch in den meisten seiner Gedichte versucht er seither etwas zu erzählen. Teils erlebte, teils recherchierte Fakten formt er durch Fantasie zu etwas Eigenem um. Wie alle Dichter beschäftigt er sich mit so großen Themen wie Liebe und Tod, doch schreckt er auch vor den verflixten Nichtigkeiten des Alltags nicht zurück. Seine Gedichte sind frei von Metaphernprunk, sie imponieren durch Frische und Lust, auch an der Provokation. In dem Band „Jenseits von Wurst und Käse“ (1995) etwa schreibt Politycki, in vielen lyrischen Tonlagen, über Kaffeehaus, Stehbierhalle und Wurstbude, zum Einstieg ergreift ein Bademeister, zum Ausklang eine Klofrau das Wort. 14 Jahre später, als er 88 Gedichte unter dem Titel „Die Sekunden danach“ präsentiert, steht Politycki abermals am Tresen („Das Guinness-Gleichnis“) oder in der Nordkurve eines Fußballstadions, wo er die Hymne auf den unbekannten Nachbarn anstimmt und einen Rudi Schachtlmacher den Kopf schütteln lässt über Gedichte: „Is ja doch eh alles nur / verquirlter Quark, / wode ums Verreckn nich kapierst, was gemeint ist.“

So ist es bei Politycki eben nicht. Seine Lyrik handelt, kaum je ohne Witz, von gewöhnlichen Dingen, die doch außerordentliche und erstaunliche sind. In dem Buch sind nun alle seine Gedichte – rückwärts angeordnet von 2017 bis 1987 – versammelt, auch solche, die bisher nicht in Buchform oder nur als E-Book veröffentlicht wurden. Viel Ungewöhnliches und Vergnügliches ist dabei, etwa ein Zyklus über die abträgliche Nebenwirkung von Kioskbesuchen („1992 – ein Jahr mit dem Playboy“) oder die Beichte eines Fußballfans, der dazu verdammt ist, aus tiefstem Seelengrund seinen Verein zu lieben („Einmal Löwe, immer Löwe“). Übrigens pflegen sich Polityckis Texte von Auflage zu Auflage zu verändern. Dadurch, so sagt er, bleiben sie für ihn lebendig. Auch in diesem Buch ist dem einen oder anderen Gedicht etwas hinzugefügt. Und ein Zyklus über „Freund Hein und andere Gefährten“ wurde sogar um die Fotos – von Jochen Hein – erweitert, die in der Originalausgabe gefehlt haben.

Wolfgang Frühwald, an dessen Münchner Lehrstuhl für Neuere deutsche Literatur Politycki einst als Akademischer Rat tätig war, würdigt im Anhang der „Sämtlichen Gedichte“ kenntnisreich die Entfaltung der Lyrik- und Erzählformen „dieses auf ironisch-melancholische Weise heiteren Poeten“.

Matthias Politycki: Sämtliche Gedichte. Hoffmann und Campe, 639 Seiten, 32 Euro.