Hof Unterschiedliche Temperaturen

Michael Thumser

Da reicht ein gehypter Serienstar so schnell nicht ran: Jugendliche Akteure glänzten in den deutschsprachigen Beiträgen der 52. Hofer Filmtage. Eine Nachlese.

 
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Nochmal "von vorn anfangen" - das wünschen sich fünf Sechzehnjährige. "Raus" wollen sie aus der abgefuckten Zivilisation und rein in die reine Wildnis, dann aus einem heißen Tal hinauf in gebirgskalte Unberührtheit knapp unter der Baumgrenze. Vergleichbar unterschiedliche Temperaturen herrschten auf Hofs Straßen und in den Lichtspielhäusern. Die lobte Festivalleiter Thorsten Schaumann noch einmal am späten Sonntagabend, als er im Central-Kino vom Publikum der Internationalen Filmtage Abschied nahm: "Bei dem miesen Wetter draußen ist das Kino ein herrlich warmer Ort."

Neu anfangen. In Hof ist’s vor zwei Jahren, nach Heinz Badewitz’ Tod, gelungen. Heuer, bei der 52. Auflage, hat sich Schaumann als Nachfolger behauptet, nicht zuletzt, weil er nie versuchte, den Unnachahmlichen zu imitieren. Mit neuen Energien lief sich das Festival vom ersten Tag an warm, "neue Höhepunkte", wie Schaumann sagte, markierten den Verlauf; auch wenn das weniger fürs hochklassige, allerdings nicht Funken sprühende deutschsprachige Programm gilt.

Vielmehr bezog sich der Filmtagechef auf die Auszeichnungen, deren Rekordzahl und -dotationen über den Stellenwert des Filmfests nur Bestes aussagen, wie er findet. Da stimmten Joachim Schroeder und Tobias Streck, die Regisseure von "Kill me today, tomorrow I’m sick", zu: "Von der Preisverleihung in Montreal direkt nach Hof - das ist der angemessene Weg."

Mit dem kiloschweren "Hofer Goldpreis" fährt die erst 29-jährige Luzie Loose nach Hause. Als eines der aussichtsreichsten Jungtalente des aktuellen Festivals weist sie sich mit "Schwimmen" aus; ein fesselnd sensibles, zugleich heftig beklemmendes Debüt - kaum mag man glauben, dass es eins ist. Fast wie eine Stalkerin folgt ihre Kamerafrau Anne Bolick der Fährte zweier gegen die Welt verbündeter, gegen die Wand fahrender Schülerinnen. Bloßstellungen im Netz zahlen sie mit gleicher Münze heim: Smartphone, Facebook, Instagram werden zu Mitteln und Schauplätzen ihrer Rache. Dabei vermischen sich Kamera- und Handybilder schier untrennbar, um in eingetrübten, auch düsteren Farben eine Freundschaft zu durchleuchten, die schrecklich und ohne Zukunft ist, weil die Wut sie nährt.

Gegen den starren Blick aufs Handy setzt Thorsten Schaumann das Kino "als wunderbaren Ort der Begegnung in Zeiten der sozialen Medien, die uns alle einsam machen". Jene Verlassenheit bekämpfen Regisseur Marcus Richardt und Katja Riemann gleichsam digital: "Goliath96" nennt sich ein in sein Zimmer verbarrikadierter Junge, zu dem seine Mutter erst vordringen kann, als sie in einem Online-Forum unter falschem Namen mit ihm chattet. Ein Film zum Mitlesen: Textnachrichten haben 1998 schon der US-Komödie "E-Mail für Dich" von Nora Ephron den dramaturgischen Hals gebrochen. Trotzdem halten unterschiedliche Temperaturen den Betrachter auch jetzt bei der Stange. Im penibel sauberen, aber graukalten Reihenhaus verwandelt sich Riemann mit dem Feuer der Verzweiflung in ein Phantom, um ihren zum Phantom degenerierten Sohn zurückzugewinnen; dabei riskiert sie, eine Liebe zu erwecken, die anders ist als die zwischen Kind und Mutter: weil sie aufs Körperliche zielt.

Mit beeindruckender Schauspielerei brillieren vor allem Jugendliche: gleich zu Festivalbeginn die famose Ella Frey in "Glück ist was für Weicheier" von Anca Miruna Lazarescu (Kinostart: 7. Februar), nicht viel anders Stephanie Amarell und Lisa Vicari in "Schwimmen", Roland Kagan Sommer in "Sandstern", Jerome Hirthammer in Henning Beckhoffs "Fünf Dinge, die ich nicht verstehe" … Oder die aus fünf sehr unterschiedlich temperierten Typen bunt gemischte Truppe, die in "Raus" der modernen Welt den Rücken kehrt, weil die "am Arsch" ist; zwischen den Bergen Südtirols, bei einem Guru hoffen sie Erlösung zu finden. Kann es im Leben einen "Neustart wie bei einem Computer" geben? Spielfilm-Debütant Philipp Hirsch verfolgt das Quintett durch viel Landschaft hindurch und auf viele Höhenmeter hinauf, durch Freundschaft und (beinah) tödliche Feindschaft, durch Hoffnung und Lüge, Enttäuschung und Liebe. Letztere sieht so künstlich aus wie in Randal Kleisers süßsofter US-Schnulze "Die blaue Lagune" von 1980. Aber das Plädoyer für Träume, die auch noch zerplatzt ihren Wert behalten, berührt durchaus. Ein Film explizit "mit Botschaft", und die klingt, wie der Brief des geheimnisvollen Gipfel-Gurus, "ein bisschen verstaubt, aber auch saucool".

Nach überdreht hippem Beginn schließt sich auch "Raus" der Entschleunigung an, die das deutschsprachige Kino seit Jahren pflegt. Und natürlich bleiben jugendliche Liebe und Sexualität konstant ein Interessensgebiet der vielfach jungen Filmemacher. Regelwidrig, wenn auch berückend erotisch geht es zwischen zwei Geschwistern in Thomas Imbachs "Glaubenberg" zu: Zum Inzest-Drama geriete die Schweizer Produktion, erläge der Bruder den körperlichen Avancen der begehrlichen Schwester. Inspiriert hat den Regisseur, wie er mitteilt, ein antiker Stoff, und gern bestätigt man ihm, dass er für die "alte Legende" des Dichters Ovid "wahre Charaktere" fand. Indem die Kamera sich so zudringlich wie diskret fast ausschließlich auf die Gesichter richtet, schiebt sie die Grenze zwischen erträumter Lusterfüllung und realer Ernüchterung mal mehr zur einen Seite, mal mehr zur andern. So können sich Pein und Paranoia der unerfüllten Schwester immer heilloser steigern - und sich am Ende doch in Poesie vollenden.

Ein anderes junges Mädchen geht mit einem älteren Mann auf amouröse Tour. Nabokovs Lolita? Falsch: Emily in "Für immer und dich". Zum ersten Mal hat die als Dokumentaristin wie als Spielfilmregisseurin versierte Julia von Heinz einen "Tatort" gedreht - und erwartungsgemäß die Krimi-Standards ihrem eigenen Stilwillen angepasst: Tief dringt sie in die Charaktere der Figuren ein, genau zeichnet sie zwischenmenschliche Abhängigkeiten, Ansprüche und Überforderungen nach. Als Emily, die kindliche Geliebte eines 40-jährigen Lebensflüchtlings, darf sich auch die 18-jährige Meira Durand unter die imponierenden Frühbegabungen deutscher Schauspielerei rechnen. Und die Regisseurin weist nach, dass deutsche Krimiserien, ungeachtet ihrer Inflation, immer mal wieder mit Sternstunden aufwarten.

Authentizität verdankt ihr Film - ähnlich wie "Glaubenberg", "Schwimmen", "Raus" - einer Dialogführung, die trotz subtiler Formulierungen oft wie improvisiert wirkt. Dass indes ein Film, der ganz ohne festgelegten Text auskommen soll, wohl nie befriedigend gelingt, bekräftigt die Impro-Produktion "Kanun". Noch einmal die Geschichte einer Vergeltung: Als Berliner Flaschensammler Agim lässt sich Serienstar Kida Ramadan ("4 Blocks") für ein Versöhnungstreffen zur Reise ins heimatliche Albanien überreden; dort aber wird er mit der Gegenwart einer Blutrache konfrontiert, die uralten Gesetzen unausweichlich folgt. Das klingt spannend. "Drehbücher", schnoddert Regisseur Til Obladen in Hof daher, "werden total überschätzt." Das klingt vermessen.

Auch hierorts ist der aktuelle Hype um Kida Ramadan zu spüren. Einen guten Schauspieler macht der Rummel aus ihm nicht. In redundantem Geplapper ertrinkt die erste, Berliner Hälfte des per Whats-App entwickelten Plots. Die balkanische zweite hingegen lädt sich frostig mit einer Atmosphäre tödlicher Bedrohung auf - bis zum Showdown in trostloser Schnee-Einsamkeit. "Unterschiedliche Temperaturen", sagt Regisseur Obladen, wolle er herrschen lassen. Immerhin am Schluss gefriert das Blut, und der Besucher, der nachts das Kino verlässt, wähnt sich auf Hofs knackig kalten Straßen für Augenblicke im hohen Südtirol oder in Albanien.

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