So!: Herr Reheis, mal ehrlich: Wann hatten Sie das letzte Mal Stress?

Fritz Reheis: Richtigen, lang anhaltenden Stress? Schon lange nicht mehr. Das tue ich mir nicht mehr an. Aber kleine Stresssituationen jede Menge. Zum Beispiel wenn ich immer zu spät aus dem Haus gehe und zum Bahnhof rennen muss, um den Zug noch zu erreichen. Weil ich als ausgewiesener Entschleuniger eigentlich immer schön langsam unterwegs sein sollte, um meine Glaubwürdigkeit auch bei meinen Nachbarn nicht zu gefährden, stresst das zusätzlich.

So!: Nach Ihrer Auffassung erweist sich das Fortschrittsprogramm der Moderne als Falle. Ihre Diagnose lautet: Wir sind beschleunigungskrank. Was verstehen Sie darunter?

Reheis: Wir sind unablässig bemüht, Zeit einzusparen. Wir rüsten uns mit einem gigantischen Arsenal zeitsparender Maschinen aus. Wir kochen mit Schnellkochtöpfen, fahren mit Hochleistungslimousinen, kommunizieren mit Handy und Internet. Wir produzieren auf Roboterstraßen, streichen Pausen und schaffen das Warten ab, wo immer der Fluss der Nonstop-Aktivitäten behindert werden könnte. Wir arbeiten rund um die Uhr, rund um die Woche, rund um das Jahr. Wir konsumieren, was das Zeug hält, verlängern die Ladenöffnungszeiten und locken bereits im Spätherbst mit Schoko-Nikoläusen und im Spätwinter mit Schoko-Osterhasen. Wir essen während des Fernsehens, wir telefonieren während des Autofahrens, wir erholen uns beim Einkaufen im Erlebniskaufhaus und manche kaufen und verkaufen ihre Aktien während des Mittagessens. Aber bei all dem Bemühen und Schnelligkeit, Pausenlosigkeit und Gleichzeitigkeit ist immer irgendwie unklar, wo die eingesparte Zeit eigentlich bleibt.

So!: Sie sprechen vom sogenannten „Multitasking“. Erfolgreich ist, wer viele Dinge gleichzeitig tun kann. Wie die erfolgreiche Rechtsanwältin mit eigener Kanzlei, die drei perfekt erzogene Kinder hat, deren Haushalt vorbildlich organisiert ist, die nebenbei noch die Vorstandschaft vom Elternbeirat, Lions Club und mehreren Sportvereinen inne hat, die Bücher schreibt, nebenher modelt und jeden Tag ins Fitnessstudio geht. Was läuft da schief?

Reheis:
Ich persönlich habe mit Multitasking deshalb kein Problem, weil ich dazu völlig unfähig bin: Ich kann nur eins nach dem andern machen. Grundsätzlich ist Multitasking neben Temposteigerung und Pausenstreichung die dritte klassische Strategie zur Beschleunigung in der Turbogesellschaft. Alle drei Strategien kosten ziemlich viel Energie, führen zur schnellen Erschöpfung und zu häufigen Fehlern. Schlimmer aber ist: Das „Schneller, Höher, Weiter“ raubt uns die Zeit zum Innehalten, die wir bräuchten, um die alles entscheidende Frage nach dem „Wohin?“ zu stellen. Innehalten, Besinnen und Muße sind im Hamsterrad des unablässigen Konsumierens und Arbeitens nicht erwünscht.

So!: Wie schützen Sie sich selbst vor „Zeitfressern“?

Reheis: Indem ich ihnen aus dem Weg gehe. Sinnloses Fernsehen, im Internet surfen, Klamotten kaufen oder Smalltalks sind bei mir solche Zeitfresser. Um Letzteren aus dem Weg zu gehen, muss man sich manchmal ungenießbar machen, dann wird man solche Zeitfresser ganz von alleine wieder los.

So!: Wie sieht Ihr ganz persönlicher, idealer Tagesablauf aus?

Reheis: Sehr früh aufstehen, abhängig von der Jahreszeit, Morgensport, Frühstück mit ausgiebiger Zeitungslektüre, eineinhalb Stunden Arbeit, halbe Stunde Pause mit Bewegung möglichst in der frischen Luft, Fortsetzung der Arbeit usw. Wichtig ist mir zudem ein langer Mittagsschlaf. Die kreativen und wichtigen Sachen sollten möglichst am Vormittag erledigt sein. Ab dem mittleren oder späten Nachmittag sollte dann irgendwann Schluss sein mit den Pflichten und mit der exakten Zeitplanung. Dann beginnt das Leben im Hier und Jetzt. Ziel ist die kluge Lust.

So!: Tragen Sie eine Uhr?

Reheis: Am Handgelenk kann ich keine Fremdkörper leiden. Taschenuhren und jetzt die Uhr auf dem Handy finde ich schon sinnvoll. Mein Ziel ist, die Zeit so einzuteilen, dass es immer wieder größere Phasen gibt, in denen ich nicht auf die Zeit achten muss. In solchen Phasen vergeht sie einfach, es ist das berühmte Leben im Hier und Jetzt. Damit solche Phasen möglich werden, muss man sich aber vorher gut disziplinieren, und dazu braucht man eben die Uhr.

So!: Haben Sie persönlich das Gefühl, mehr Zeit zu haben als andere?

Reheis: Einerseits: Na klar, ich bin als Hochschullehrer überaus privilegiert. Über 5 Monate vorlesungsfreie Zeit, das ist schon prima. Andererseits: Jeden Tag sterben weltweit 30 000 Kinder, weil sie nicht genug zu trinken, zu essen und keine medizinische Versorgung haben. Die gegenwärtige Finanzund Wirtschaftskrise lässt die Zahl der Opfer weiter ansteigen. Es gibt also viel zu tun, und dafür hätte ich gern viel mehr Zeit. Langweilig war mir jedenfalls noch nie.

So!: Schreiben Sie gerade an einem neuen Buch?

Reheis:
Ja, es ist schon fast fertig. Der Arbeitstitel lautet: „Und hatte Marx doch Recht?“ Im Herbst letzten Jahres habe ich mich auf der Flucht vor Zeitfressern in ein fränkisches Kloster zurückgezogen, um dort die Rohfassung zu schreiben: Zwei Wochen ohne Zeitung, Telefon, Mail und Fernsehen, allein dem benediktinischen Rhythmus von Beten und Arbeiten unterworfen – das war nicht nur eine heilsame Erfahrung, sondern erhöhte die Produktivität des Schreibens ganz enorm.

Interview: Sabine Raithel

KURZ & KNAPP

Dr. Fritz Reheis, Jahrgang 1949, promovierte nach seinem Lehramtsstudium in Soziologie mit Nebenfach Politikwissenschaft und habilitierte sich in Erziehungswissenschaften mit Schwerpunkt Anthropologie. Nach seiner Zeit als Gymnasiallehrer war er Lehrbeauftragter und Dozent an verschiedenen Hochschulen. Seit 2007 ist Reheis Akademischer Oberrat am Lehrstuhl für Politikwissenschaft I, Fakultät für Sozial- und Wirtschaftswissenschaftenan der Universität Bamberg. Er ist Mitglied im Verein zur Verzögerung der Zeit, arbeitet im „Projekt Ökologie Zeit“ an der Evangelischen Akademie Tutzing und ist Gründungsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Zeitpolitik. Reheis ist Autor verschiedener Bücher u.a. „Entschleunigung. Abschied vom Turbokapitalismus“ und „Bildung contra Turboschule!“. Fritz Reheis lebt in Rödental bei Coburg.