Eigener Inhalt Elf Punkte für ein Halleluja

Eva-Maria Hommel

Wie entsteht eigentlich ein Engel? In einer Manufaktur im Erzgebirge weiß man das schon seit 102 Jahren. Die rundlichen Holzfiguren erfreuen Sammler, Touristen und sogar die japanische Kaiserfamilie. Es waren zwei Frauen, die das Unternehmen gründeten und so der erzgebirgischen Volkskunst Flügel verliehen.

 
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Am Anfang war das Holz. Reichlich wuchs es im Erzgebirge, mit ihm stützten die Bergleute die Stollen ab. Und nach der Schicht schuf so mancher mit dem Schnitzmesser kleine Kunstwerke. Als die reichen Erze ausgeschöpft waren, wurde die Region mit Holzspielzeug und später Weihnachtsschmuck berühmt.

Am Anfang war das Holz – auch und gerade in Grünhainichen, einem langestreckten Ort mit dreieinhalbtausend Einwohnern, irgendwo zwischen Chemnitz und den Höhen des Erzgebirges. In der Hauptstraße werben bis heute Holzspielzeugmacher und Drechsler für ihre Ware. Das hat Tradition: Im Jahr 1900 wurden im Ort sieben Spielwarenbetriebe und mehr als tausend Hausindustrielle gezählt. Im Fachwerkhaus mit der Nummer 40, und in mehreren Gebäuden dahinter, liegt das Reich der Engel. Hier gründeten Margarete Wendt und Margarete Kühn im Jahr 1915 eine Manufaktur für pausbäckige Engel, Blumenkinder und Spieldosen. Und brachten die erzgebirgische Holzkunst damit einen Flügelschlag weiter.

Denn ihre Figuren fallen selbst in der Region der Holzkünstler auf, weil sie so lebensecht und detailverliebt gestaltet sind. Das kommt an: Es gibt Sammler, die sich jedes Jahr einen neuen Engelmusikanten wünschen. Die Kundenzeitschrift hat 80 000 Abonnenten. Manche haben ihre Geschichten in einem Leserbrief aufgeschrieben: Wie das Enkelkind vom Harfenengel so begeistert war, dass es Harfe spielen lernte und heute Konzerte gibt. Wie eine Liebhaberin beim Vorstellungsgespräch die Augen nicht vom Engelsorchester der Chefin lassen konnte – sie wurde eingestellt und bekam ab dann jedes Jahr zu Weihnachten und zum Geburtstag einen Engel geschenkt.

Besuch im Land der Engel
– Die Ausstellung "Wendt&Kühn-Welt" in Grünhainichen, Chemnitzer Straße 40, ist täglich außer an den Weihnachtsfeiertagen und Neujahr von 10 bis 17 Uhr geöffnet ( Heiligabend und Silvester bis 13 Uhr). An folgenden Schautagen im Jahr 2018 können Besucher die dortige Manufaktur besichtigen: 10. bis 13. Mai (Christi Himmelfahrt), 1. und 2. Dezember (erstes Adventswochenende), jeweils 10 bis 17 Uhr. Der Eintritt ist frei.
– Die Verkaufsausstellung "Figurenwelt" im Spielzeugdorf Seiffen, Hauptstraße 97, ist täglich außer am Ersten Weihnachtsfeiertag und Neujahr von 10 bis 17 Uhr geöffnet, vom 1. Oktober bis Jahresende bis 18 Uhr (Heiligabend und Silvester bis 13 Uhr). An folgenden Schautagen im Jahr 2018 können Besucher sehen, wie bestimmte Figuren hergestellt werden: 31. März und 1. April (Ostern), 10 bis 17 Uhr; 20. und 21. Oktober (Tag des traditionellen Handwerks), 10 bis 18 Uhr. Der Eintritt ist frei.

Am Anfang aller Engel aber ist das Holz – das gilt hier noch immer. Auf Regalen liegen Rundstäbe und Leisten. Buche und Ahorn, weiches Lindenholz für Teile, die von Hand gefräst oder geschliffen werden, Fichte als Klangholz für die Spieldosen. "Wir verarbeiten ausschließlich einheimische Hölzer", erklärt Lena Sabotta, die bei Wendt & Kühn für die Markenkommunikation verantwortlich ist. Produziert werde nur vor Ort und in einer kleinen Außenstelle im nahe gelegenen Olbernhau.

Der Anfang aller Engel ist laut. Nicht die Trompeten von Jericho, sondern motorbetriebene Drechselbänke füllen den Raum. Doch wenn der Drechsler das schräge Eisen ansetzt und aus dem sich drehenden Holz scheinbar mühelos einen Spieldosenkörper formt, dann hört man im inneren Ohr schon den feinen, metallischen Klang des Schweizer Spielwerks. Auch Arme, Beine, Kopf, Körper und sogar die kleinen Locken der Engel formen die Drechsler.

Die in Serie gedrechselten Körperteile sind typisch für die erzgebirgische Holzkunst. Bei Wendt & Kühn aber klebt man nicht einfach ein Bein an. Sondern man zersägt es erst schräg und fügt es versetzt wieder zusammen, damit es angewinkelt aussieht. "Dadurch kann der Engel sitzen, hüpfen, er kann alles machen", erklärt Lena Sabotta. Die Figuren wirken lebensecht. Hier zeigt sich die Spur der Grete Wendt, die wie ihre Mitgründerin Margarete Kühn an der Königlich-Sächsischen Kunstgewerbeschule in Dresden studiert hatte. Zwei Frauen gründen ein Unternehmen – vor gut hundert Jahren alles andere als selbstverständlich. "Sie haben einen mutigen Schritt gewagt", sagt Lena Sabotta. Grete Wendt, Jahrgang 1887, konnte sich dabei auf die Unterstützung ihres Vaters verlassen, der die Spielwarenfach- und Gewerbeschule in Grünhainichen leitete.

Noch mehr Weihnachten
– Gezacktes Symbol: Der Herrnhuter Stern
Die beleuchteten Sterne in Rot-, Weiß- und Gelbtönen haben ihren Ursprung in der Herrnhuter Brüdergemeinde in der Oberlausitz. Der Ort wurde 1722 von protestantischen Glaubensflüchtlingen aus Mähren gegründet. Ihre Kinder wurden oft in Internaten unterrichtet, wenn die Eltern auf Missionsreise waren. In einer Internatsstube entstand Anfang des 19. Jahrhunderts der erste Stern aus Papier und Pappe.
– Gewölbte Erleuchtung: Der Schwibbogen
Die Bezeichnung kommt wohl vom Schwebebogen, einem Bogen, der zwischen zwei Mauern "schwebt". Die bekannteste Variante zeigt die prägenden Handwerke der Region: Zwei Bergmänner, ein Holzschnitzer und eine Spitzenklöpplerin. Manche sehen in dem Bogen das Mundloch eines Stollens, andere den Himmelsbogen. Fest steht aber: Er hat viel mit der Sehnsucht der Bergleute nach dem Licht zu tun.
– Glitzernde Freude: Christbaumkugeln aus Lauscha
Ursprünglich waren es wohl Nüsse und Früchte, die ein Lauschaer Glasbläser im Jahr 1847 erstmals schuf. Daraus entwickelten sich die heute so bekannten Christbaumkugeln. Der Ort im Thüringer Wald wurde 1597 durch den Bau einer Glashütte gegründet. Noch heute sind dort viele Glashütten und Glasbläserwerkstätten ansässig.

Ihre Studienfreundin Margarete Kühn schöpfte in den ersten Jahren hauptsächlich Truhen und Spanschachteln und bemalte sie kunstvoll. Nach ihrer Heirat 1920 verließ sie die Werkstätten. Grete Wendt konzentrierte sich auf figürliche Arbeiten, bald unterstützt von ihrer Schwägerin Olly Wendt. Die Künstlerinnen achteten auf schlichte klare Gestaltung im Sinne des Bauhaus-Stils, und hatten einen guten Blick fürs Detail: Der gedrechselte Körper des Blumenkinds wölbt sich nach hinten, als böge er sich unter der Last der großen Blume. "Grete Wendt war eine aufmerksame Naturbeobachterin", sagt Lena Sabotta. "Sie hat viele skizzenhafte oder technische Zeichnungen hinterlassen." Rund 2500 Figurenentwürfe für jede Jahreszeit sind erhalten. Nach ihnen wird bis heute produziert, die wenigen Neuentwicklungen folgen ihrem Stil. So kommt zum Beispiel jedes Jahr ein neuer Engelmusikant auf den Markt.

Zunächst ist da aber nur Holz. Eine Flöte, Köpfe, Arme, Beine, Körper und Locken liegen auf dem Tisch von Cornelia Mortensen. Stück für Stück setzt sie einen Querflötenengel nach dem anderen mit Leim zusammen. Langweilig wird ihr das auch nach 24 Jahren nicht, sagt sie: "Man macht ja immer was anderes. Und es ist schön, wenn ich etwas im Schaufenster sehe und sagen kann: Das hab ich gemacht." Ihre Kollegin Katrin Sieber ergänzt: "Es macht stolz, dabei zu sein bei einem Weltunternehmen." Rund 220 Händler beliefert Wendt & Kühn weltweit, in Deutschland sind es noch einmal 750. Der größte Exportmarkt ist Nordamerika. Sogar im Hollywood-Film "Saving Mr. Banks" aus dem Jahr 2013 spielen Figuren aus Grünhainichen mit: Sie schmücken das Arbeitszimmer von Walt Disney, der als Liebhaber von Miniaturen galt. Auch die japanische Kaiserfamilie bekam vergangenes Jahr vom damaligen Bundespräsidenten Joachim Gauck musizierende Engel überreicht.

Sind die Holzfiguren erst zusammengesetzt, gehen sie tauchen: Sterne, Weihnachtsmänner, Krokusse auf Stäben werden in Farbe getaucht, gedreht, die Mitarbeiter bessern mit dem Pinsel nach. Auch die kleinste Blüte bekommt zwei Grundierungen und einmal Lackfarbe. Der Aufwand erklärt, warum ein Weihnachtsengel um die 30 Euro kostet und für die kunstvollen Spieldosen dreistellige Summen fällig werden.

Ist die Lackfarbe getrocknet, kommen die Malerinnen zum Zug, besser gesagt zum Pinsel. Eine fast himmlische Stille herrscht in der Malerei, Präzision ist alles. So müssen zum Beispiel die elf Punkte, das Markenzeichen, genau auf die grünen Engelsflügel passen. Warum genau elf Punkte? Grete Wendts überlieferte Antwort: "Es hat sich halt so ergeben."

Bei mehr als 400 Artikeln im Sortiment, darunter etwa 150 verschiedene Engel, gibt es für die Malerinnen eine gewisse Abwechslung. Doch fünf von ihnen malen von morgens bis abends "nur" Gesichter. Eine der Gesichtermalerinnen ist Ina Kluge: "Es kommt schon mal vor, dass mir was danebengeht", sagt sie, "aber dann kann ich die Farbe abwischen und neu malen." Das runde Gesicht mit den rosigen Wangen ist ein Markenzeichen von Wendt & Kühn.

Die lächelnden Engel kommen dann in Kisten voll Seidenpapier und fahren hinaus in die Welt. Jedes Jahr verschickt die Manufaktur etwa 16000 Pakete an Händler. Eine Riesenspieldose im Ort zeigt Besuchern, dass hier die Heimat der Engel ist.

Hin und wieder fliegen die Engel auch nach Grünhainichen zurück. Abgeschabte, beschädigte, manchmal 80 Jahre alte Figuren schicken die Kunden zu Kirsten Fahsel. Manche haben die Stücke von der Oma geerbt, andere haben sie auf dem Trödelmarkt gefunden. Eine Restaurierung könne zwischen zehn und 5000 Euro kosten, sagt Fahsel. Das passende Muster muss gesucht, Farben müssen bestimmt und gemischt werden. Das Interesse habe in den vergangenen Jahren zugenommen: "Die Leute lernen den Wert der Dinge wieder zu schätzen."

Fans können in einer Ausstellung rund 90 Objekte aus der Firmengeschichte bewundern. Höhepunkt ist der Musterschrank. Da sind die Beerenkinder, mit denen Grete Wendt schon 1913 Preise gewann. Da sind Engel mit kunstvoll gemalten goldenen Ornamenten. Sie erinnern an baltische Motive und stammen von Olly Wendt, geborene Sommer, die aus Riga stammte. 1920 kam sie in die aufstrebende Manufaktur im Erzgebirge. Sie heiratete Johannes, den Bruder von Grete Wendt und kaufmännischen Leiter, sie prägte jahrzehntelang die Manufaktur mit.

Und tut es bis heute, denn zwei ihrer Enkel, Claudia Baer und Florian Wendt, leiten inzwischen das Unternehmen mit 195 Mitarbeitern. "Für uns als Kinder und Jugendliche war das nicht abzusehen", sagt Claudia Baer. Denn im Jahr 1972 wurde der Familienbetrieb verstaatlicht. Grete Wendt schied aus nach 57 Jahren. Ihr Sohn, der inzwischen verstorbene Hans Wendt, wurde vom "VEB Werk-Kunst Grünhainichen" als Betriebsdirektor eingestellt und konnte so die Initialen W und K, die Muster und das Können der Mitarbeiter bewahren.

Die Reprivatisierung im Jahr 1990 erlebte Grete Wendt nicht mehr, doch für Hans Wendt war sie eine große Freude, erzählt Claudia Baer: "Es war völlig klar, dass mein Vater das Unternehmen leiten würde." Ab 2001 übernahm ihr Bruder Tobias dann die Geschäfte, seit 2011 teilt sie sich die Verantwortung mit ihrem Bruder Florian. "Wir stellen uns der Herausforderung, die Tradition zu bewahren und gleichzeitig eine neue Generation zu begeistern." Wer hat heute noch eine Vitrine, in die ein ganzer Engelberg passt? Das Unternehmen reagiert; präsentiert seine Figuren etwa auf platzsparenden Wandleisten. Aber die Engel sehen immer noch aus wie vor hundert Jahren: rundlich, verspielt und beflügelt.