Nach der Zerstörung des Kachowka-Staudamms reicht das Wasser des Stausees nach ukrainischen Angaben nicht mehr aus, um die Reaktoren im Atomkraftwerk (AKW) Saporischschja zu kühlen.
In der Ukraine ist die Sicherheit von Europas größtes Atomkraftwerk Saporischschja durch die Zerstörung des Kachowka-Staudamms gefährdet. Es drohen schwer kalkulierbare Risiken.
Nach der Zerstörung des Kachowka-Staudamms reicht das Wasser des Stausees nach ukrainischen Angaben nicht mehr aus, um die Reaktoren im Atomkraftwerk (AKW) Saporischschja zu kühlen.
Der Chef des ukrainischen Energieunternehmens Ukrhydroenergo, Igor Syrota, hat mitgeteilt, dass der Wasserpegel unter eine kritische Marke gesunken sei. Das bedeute, dass der See die Kühlbecken des AKW nicht länger mit Wasser versorgen könne.
In ihrem täglichen Update zur „kerntechnischen Sicherheit in der Ukraine“ schreibt die Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS):„In einer Telegram-Meldung informiert die Betreiberin des Kernkraftwerkes (KKW) Saporischschja, dass die Situation vor Ort stabil sei. Demnach lag der Wasserstand des Stausees um 11 Uhr (OZ) im Bereich von Nikopol bei 12,9 Meter, während der Kühlteich des KKW einen Wasserstand von 16,6 Metern habe. Dies sei genug, um den Bedarf des KKW zu decken.“
Der Chef der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA), Rafael Grossi, erklärte, dass bald kein Wasser mehr aus dem dahinter liegenden Reservoir gepumpt werden könne. Das von Russland besetzte Kraftwerk liegt am nördlichen Ende des Stausees.
Wenn diese Becken voll seien, reiche das Wasser zur Kühlung der sechs Reaktoren für mehrere Monate. Zwar seien die Reaktoren abgeschaltet, aber sie brauchten trotzdem Kühlwasser.
Vor dem Krieg wohnten in der Region mehr als 700 000 Menschen. Direkt am Atomkraftwerk liegt die Stadt Enerhodar, die vor dem russischen Überfall auf das Nachbarland mehr als 50 000 Einwohner hatte.
Russland und die Ukraine haben seit Beginn des Kriegs wiederholt davor gewarnt, dass eine mögliche Atomkatastrophe viel schlimmer werden könnte als die des 1986 havarierten AKW Tschernobyl.
„Grundsätzlich sind militärische Angriffe nicht Teil des Designs von Kernkraftwerken“, erläutert der Risikoforscher Nikolaus Müllner von der Universität für Bodenkultur in Wien. Kernkraftwerke seien so gebaut, dass sie Naturkatastrophen, Flugzeugabstürzen oder Terrorattacken standhalten können. Schutz gegen gezielte militärische Zerstörung sei kaum möglich.
Saporischschja ist durch einen getrennten Kühlkreislauf und eine besondere Schutzschicht besser geschützt als die zwei Unfall-AKW Tschernobyl (Ukraine) und Fukushima (Japan).
Ein Beschuss der Anlage müsse also nicht zwangsläufig zu einem kerntechnischen Unfall führen, berichtet Atomtechnik-Experte Sebastian Stransky von der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS). „Damit es zu einem solchen Unfall kommt, muss das Kühlsystem beschädigt sein.“
Die sicherheitstechnisch wichtigen Anlagen in der Ukraine seien in geschützten Gebäuden untergebracht, so Stransky weiter. „Sie würden einem Beschuss durchaus standhalten können. Das hängt allerdings auch von der Schwere des Beschusses ab.“ Der Reaktor selbst werde von einer Stahlbetonhülle geschützt, der einen Absturz eines kleinen Flugzeugs aushalten könne.
„Selbst wenn er beschädigt ist, bedeutet das nicht automatisch, dass es zu einem kerntechnischen Unfall kommt“, führt Sebastian Stransky weiter aus. Erst wenn dauerhaft der Strom ausfallen und das gesicherte Kühlwassersystem versagen würde und auch sämtliche Notstromaggregate ausfallen würden, würde es letzten Endes zu einem Ausfall der Nachkühlung kommen. Dies könne zu einer Kernschmelze führen.
Die Zerstörung der externen Stromversorgung der Anlage könnte laut Müllner im schlimmsten Fall zu einer Kernschmelze führen. Falls die Notfallgeneratoren vor Ort intakt bleiben, lassen sich die Reaktoren noch einige Tage weiterkühlen. Wenn auch diese Aggregate oder die Dieselvorräte für ihren Betrieb zerstört werden, bleiben laut Müllner maximal 15 Stunden bis zum Atomunfall.
Eine weitere Gefahr drohe durch Beschädigung von Dampfleitungen. Auch in diesem Fall sei das Kühlsystem in Gefahr. Die IAEA warnt außerdem davor, dass Sicherheitssysteme des AKW zerstört werden könnten und dass Einsatzpläne für den Fall eines Atomunfalls im Gefecht nicht mehr greifen. Seit dem Beschuss sind in Saporischschja bereits einige Strahlenmessgeräte defekt.
Auf dem Kraftwerksgelände gibt es auch noch ein Zwischenlager. Derzeit lagern auf dem Werksgelände rund 40 Tonnen angereichertes Uran und 30 Tonnen Plutonium.
Dem ukrainischen Betreiber Enerhoatom zufolge befinden sich unter freiem Himmel zudem 174 Container mit jeweils 24 abgebrannten Brennelementen. Direkte Artillerietreffer könnten demnach so etwas wie eine „schmutzige Atombombe“ erzeugen.
Der schlimmste Fall tritt ein, wenn einer der Reaktorblöcke zerstört wird oder es aufgrund eines mehrfachen Stromausfalls zu einer Kernschmelze kommt. Versagen die Generatoren, würden die Brennstäbe bereits nach 90 Minuten gefährlich hohe Temperaturen erreichen – samt Kernschmelze.
Normalerweise erzeugen die Brennstäbe Hitze, welche von einem ersten Wasserkreislauf im Reaktor aufgenommen wird. Über Rohre wird die Wärme in einen zweiten Wasserkreislauf abgeleitet, es wird Dampf erzeugt. Dieser treibt eine Turbine an, die wiederum den Strom erzeugt. Auch Reaktoren, die nicht aktiv Strom erzeugen, müssen weiter gekühlt werden.
Kommt es zur Kernschmelze, kommt das Kühlwasser nicht in Kontakt zur Außenwelt – eigentlich. Denn bricht die Stromversorgung des AKW zusammen, und damit auch die Kühlversorgung, entsteht im Reaktor ein Überdruck. Kann dieser nicht über Ventile abgelassen werden, könnten die Reaktoren zerstört werden.
Wolfgang Raskob vom Karlsruher Institut für Technologie (KIT) geht davon aus, dass im Falle eines größeren Atom-Unfalls wohl dieselben Stoffe freigesetzt würden wie einst 1986 in Tschernobyl. Einige radioaktive Formen dieser Stoffe – etwa von Cäsium, Strontium und Iod - oder deren Verbindungen sind neben der Strahlengefahr auch noch giftig.
Das hätte vor allem verheerende Folgen für die Ukraine. Aber auch anliegende Nachbarländer wie Belarus, Polen, die baltischen Staaten, Moldawien, Rumänien, Bulgarien und auch Russland könnten unter der austretenden Strahlung leiden.
Experten gehen davon aus, dass in diesem Fall das Land in einigen hundert Kilometern Umkreis unbewohnbar werden würde. Die Ausdehnung hängt auch von der Windrichtung ab – bei dem häufig herrschendem Ostwind könnte die Radioaktivität nach Russland und Kasachstan getragen werden, bei anderer Windrichtung wäre auch ein Herüberwehen nach Mittel- und Westeuropa möglich.