Keines der zehn Glieder der menschlichen Hand hat es zu ähnlichem Ruhm gebracht wie der rechte Mittelfinger. Als obszöne Geste ist der sogenannte Stinkefinger aus der Kulturgeschichte, dem Alltagsleben und Politikgeschäft nicht wegzudenken.
Egal, ob im Alltag oder in der Politik, im Straßenverkehr oder im Sport: Grobe Worte und obszöne Gesten sind allgegenwärtig. Der Mittelfinger ist dabei fester Bestandteil unseres Repertoires. Und: Was der Stinkefinger mit der Antike zu tun hat.
Keines der zehn Glieder der menschlichen Hand hat es zu ähnlichem Ruhm gebracht wie der rechte Mittelfinger. Als obszöne Geste ist der sogenannte Stinkefinger aus der Kulturgeschichte, dem Alltagsleben und Politikgeschäft nicht wegzudenken.
„Der erste Mensch, der beleidigte, anstatt seinem Gegenüber wortlos den Schädel einzuschlagen, legte damit den Grundstein der Zivilisation“, sagte einst der britische Neurologe John Hughlings Jackson. Eine Beleidigung fühlt sich oft an wie ein Schlag ins Gesicht: plötzlich, schmerzhaft, überwältigend. Zeigt man dazu noch den Mittelfinger, kann es so manch einen zur Weißglut treiben.
Obszöne Handbewegungen und vulgäre Wortspiele finden sich überall: an der Kasse im Supermarkt, im Straßenverkehr, in einer Diskussion. Die Kommentarspalten von Social-Media-Posts sind Nester für Internettrolle, die sich dort gerne gestisch und verbal entledigen.
Auch auf dem Spielfeld kann eine einfache Bewegung mit der Hand für Furore sorgen: Am 27. Juni 1994 ließ sich Stefan Effenberg in der US-Metropole Dallas zu jener mittlerweile legendären Geste - dem Effe-Finger - mit ausgestrecktem Mittelfinger gegen deutsche Fans hinreißen, die zu seinem Rauswurf aus der Fußball-Nationalmannschaft führte – mitten in der WM.
Die ominöse Bewegung mit der Hand kann in manchen Situationen eine popkulturelle oder politische Botschaft sein, mit der man seinen Ärger deutlich Ausdruck verleiht. In anderen Fällen gilt sie dem Strafgesetzbuch zufolge jedoch als strafbare, nichtsprachliche Beleidigung. Doch wo liegt der Ursprung des Stinkefingers?
Die Schmähgeste ist ein Erbe der römisch-griechischen Antike und soll bereits von berühmten Philosophen im Diskurs verwendet worden sein. So schreibt es Reinhard Krüger in seinem amüsanten Buch "Der Stinkefinger – Kleine Geschichte einer wirkungsvollen Geste“.
Vor etwa 2500 Jahren entwickelten die Griechen demnach das phallische Symbol mit der Hand, um sich gegenseitig zu beleidigen, zu verspotten und zu provozieren. Sowohl bei den Hellenen als auch bei den Römern stellte die Handbewegung einen erigierten Penis dar und wurde sofort als sexuell assoziierte Drohung verstanden.
„Digitus impudicus“ – schamloser, unzüchtiger Finger nannten ihn die alten Römern. Eine derb verhöhnende Anspielung auf den Analverkehr zwischen Männern.
Doch warum gerade „Digitus manus III“, das dritte Endglied der Hand, wie er in der Medizin heißt? Und warum die rechte Hand? Vielleicht, weil schon in der Antike die meisten Rechtshänder waren. „Digitus medius“, der Mittelfinger, ist zwar weniger beweglich als Daumen und Zeigefinger, dafür ist er aber mit seinen drei Fingergliedknochen der längste und kräftigste Finger. Prädestiniert für nonverbale obszöne Gesten.
Schon den Philosophen Diogenes von Sinope (410–323 v. Chr.) und Sokrates (469–399 v. Chr.) galt der ausgestreckte Mittelfinger als unverhohlene Drohung: "Halte Abstand, sonst . . .!" So soll Diogenes Besuchern Athens, die nach dem berühmten Redner Demosthenes fragten, den mittleren der fünf Finger gezeigt und dabei gerufen haben: „Hier, da habt ihr euren Demagogen!“
Mit dem Ausgang der Antike im späten fünften Jahrhundert verloren sich seine Spuren. Der Stinkefinger geriet für lange Zeit in geschichtliche Vergessenheit. Erst zu Beginn des 15. Jahrhunderts kam er in Europa dank der Bogenschützen des englischen Königs Heinrich V. während des Hundertjährigen Krieges gegen Frankreich wieder zu Ehren. Nach dieser sogenannten Bogenschützen-Theorie klemmten Heinrichs Mannen den Pfeil zwischen Mittel- und Zeigefinger ein.
Wer den Franzosen in die Hände fiel, dem schnitten diese zur Strafe unbarmherzig die beiden Finger ab und machten ihn so wehruntauglich. Mit der Robin-Hood-Karriere war’s vorbei. Der Legende nach sollen die Engländer vor der berühmten Schlacht von Azincourt 1415 den französischen Rittern mit den beiden ausgestreckten Fingern signalisiert haben, dass sie schussbereit waren. Aus dieser Geste sollen die britische Version des Zwei-Finger-Stinkefingers und das „Victory“- Zeichen entstanden sein.
Wieder vergingen ein paar Jahrhunderte, bis der Stinkefinger erneut Triumphe feierte. Mit der transatlantischen Globalisierung soll die Geste dann in die Neue Welt gebracht worden sein: spätestens im 19. Jahrhundert durch italienische Einwanderer nach Nordamerika und von dort zurück nach Europa. Durch globale Medien wie Kino und Musik wurde der Mittelfinger weltweit zum Symbol eines rebellischen Lebensstils.
Anfang der 1960er Jahre wurde der „Mittelfinger“ in den Duden aufgenommen, 1996 folgte der „Stinkefinger“. Ellen Fricke, Professorin für Germanistische Sprachwissenschaft an der Technischen Universität Chemnitz, spricht von einer emblematischen Geste. Das bedeutet: Ähnlich wie gesprochene Wörter habe die ominöse Bewegung mit der Hand eine feste und allgemein anerkannte Bedeutung. Dazu zählten etwa auch das Okay- sowie das Victory-Zeichen, also die geballte Faust mit ausgestrecktem Mittel- und Zeigefinger.
Inzwischen ist die Geste fester Bestandteil des modernen Repertoires. Sie ist zu sehen in Musikvideos der Rap- und Hip-Hop-Szene und wird von wütenden Autofahrern gezeigt, egal ob gewollt oder im Reflex.
Und in der Tierwelt? Zwar sei das Phalluszeigen auch bei Primaten als Dominanzverhalten zu finden, erklärt Fricke. Ein Äquivalent für den Mittelfinger gebe es jedoch nicht, „da Primaten keine abbildenden Gesten ausführen, sondern vornehmlich ritualisierte, handlungsnachahmende Gesten“.
Stinkefinger zeigen ist wie Fluchen eine spontane Angelegenheit. Man reagiert aus dem Effekt heraus, nicht mit dem Verstand. Wer seinem Boss, dem Streifenpolizisten oder Blitzer diese „vulgäre Geste der Missachtung“ entgegenschleudert, lässt sich ziemlich unziemlich gehen. Irgendein Ventil braucht schließlich jeder, um Ärger und Anspannung, Frust und Wut abzubauen.
Obwohl ein ostentativöffentlicher Stinkefinger als Beleidigung nach Paragraf 185 des Strafgesetzbuches (StGB) geahndet wird, hat die Geste durchaus eine kathartische – das heißt reinigende Wirkung auf die Seelenhygiene.
Wissenschaftler haben herausgefunden, dass ein verbaler und gestischer „Stuhlgang der Seele“ befreit und Stress abbaut. Die möglichen rechtlichen und finanziellen Folgen eines Stinkefingers machen den schnell nachlassenden positiven Effekt allerdings wieder vollkommen zunichte. Deshalb ein Tipp: Finger weg vom Stinkefinger!
Ordnungshüter
Das deutsche Gesetz kennt keine Gnade. Wer einem anderen den Stinkefinger zeigt, erfüllt nach Paragraf 185 des Strafgesetzbuches (StGB) den Tatbestand der Beleidigung. Weist der Kläger eine schwerwiegende Persönlichkeitsverletzung nach, können vor Gericht 600 bis 4000 Euro fällig werden. Einem Polizisten derart seinen Unmut und seine Empörung entgegenzuschmettern, sollte man tunlichst lassen, weil eine Anklage reine Formsache ist.
Blitzer
Radarfallen sind für notorische Temposünder eine echte Zumutung. Kein Wunder, dass mancher Auto oder Motorradfahrer beim Blitzen nicht an sich halten kann und die Videokamera mit einer „obszönen Geste der Missachtung“ straft. Solche spontane Gefühlsentladung sollte man besser lassen, weil auch sie als Beleidigung durchgeht.
Arbeitsplatz
Das Arbeitsleben ist kein Ponyhof, weshalb einem schon mal der Finger entgleiten kann. Geschieht das gegenüber dem Chef, kann dies den Job kosten. Also lieber den Ärger in sich reinfressen und zu Hause vor dem Spiegel den Stinkefinger rauslassen.
Nachbarschaft
Um der ungeliebten Nachbarschaft eins überzubraten und Stinkefinger-Sticker am Auto oder Briefkasten aufzukleben oder als Pappschild bei Demos rum zu tragen, ist nicht strafbar. Wer allerdings seinen Nachbar nachweislich ärgern will und einen Gartenzwerg mit Stinkefinger unmissverständlich an der Gartengrenze postiert, muss mit einer Beleidigungsklage rechnen.