Aus Sicht des Gerichts hätte der Berliner Mediziner den Fall kritischer prüfen müssen. „Er traute sich zu nach eineinhalb Stunden Gespräch die Freiverantwortlichkeit einzuschätzen. Das halten wir für hochproblematisch“, so Sautter. Ein psychiatrisches Gutachten habe die Frau aus finanziellen Gründen, und weil dies aus ihrer Sicht zu lange gedauert hätte, abgelehnt, hatte der Arzt im Prozess geschildert.
Kommunikation belegt Hin- und Herschwanken
Das Gericht betonte, es sei keine Frage der Diskriminierung psychisch Kranker. Bei dem ersten Versuch am 24. Juni 2021 ist aus Sicht des Gerichts nicht auszuschließen, dass die Frau frei verantwortlich gehandelt hat. Deshalb wurde der Arzt von dem Vorwurf eines ebenfalls angeklagten versuchten Totschlags freigesprochen.
Im zweiten Fall sei das anders, so das Gericht. Nach dem gescheiterten Versuch kam die Frau in eine psychiatrische Klinik. Danach schwankte sie ständig hin und her zwischen dem Willen sterben zu wollen und im Weiterleben einen tieferen Sinn zu erkennen. Dies geht aus der Kommunikation zwischen dem angeklagten Mediziner und der 37-Jährigen hervor, die das Gericht teilweise verlas.
Noch am Morgen des Todes habe sie ihren Suizidwunsch erneuert - „28 Minuten später ein Meinungsumschwung“. „Das zeigt deutlich, wie labil sie emotional war“, so der Richter. Aus Angst vor einem erneuten Fehlschlag habe sie den Arzt gebeten, im Notfall nachzudosieren. Dies habe ihr der Angeklagte zugesichert. Damit hat er nach Überzeugung des Gerichts unmittelbar Einfluss auf die Entscheidung der Frau genommen - unabhängig davon, ob er tatsächlich aktiv eingegriffen hätte.
Das Gericht hielt dem Arzt zugute, dass er aus altruistischer Motivation gehandelt und das Geschehen umfassend gestanden habe. Die Staatsanwaltschaft hatte eine Haftstrafe von drei Jahren und neun Monaten gefordert, die Verteidigung Freispruch.
Haftstrafe auch für Mediziner in NRW
Anfang Februar war ein Arzt in einem ähnlich gelagerten Fall zu drei Jahren Haft verurteilt worden. Das Landgericht Essen sprach den Mediziner des Totschlags schuldig. Der 81-Jährige hatte einem psychisch kranken Mann aus Dorsten im August 2020 eine tödliche Infusion gelegt. Das Ventil hatte der 42-Jährige anschließend selbst geöffnet. Laut Urteil war der Patient aufgrund einer schweren psychischen Erkrankung jedoch nicht in der Lage, die Tragweite seines Handels zu erfassen und frei verantwortlich zu entscheiden.
Nach Angaben der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben (DGHS) gab es 2023 insgesamt 419 Fälle, in denen Mitglieder der Gesellschaft beim Suizid begleitet wurden. Das seien deutlich mehr gewesen als 2022 (229). Laut DGHS wurden 34 Anträge von Menschen mit psychiatrischer Vorgeschichte abgelehnt. Die Helfenden seien nur bei wenigen Personen überzeugt gewesen, dass es sich um eine frei verantwortliche Entscheidung gehandelt habe.
Sie haben suizidale Gedanken? Hilfe bietet die Telefonseelsorge. Sie ist anonym, kostenlos und rund um die Uhr unter 0 800 / 111 0 111 und 0 800 / 111 0 222 und unter https://ts-im-internet.de/ erreichbar. Eine Liste mit Hilfsangeboten findet sich auf der Seite der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention: https://www.suizidprophylaxe.de/