Vergangenheit kann ein mächtiger Gegner sein. Das muss Deutschlands dienstälteste „Tatort“-Kommissarin Lena Odenthal (Ulrike Folkerts) im neuen Ludwigshafen-Krimi schmerzhaft erkennen. Zunächst mischt sich ihre wenig feinfühlige Tante Niki in die Mordermittlungen ein, dann öffnet sich plötzlich ein Abgrund in das dunkelste Kapitel deutscher Geschichte. „Lenas Tante“ heißt der „Tatort“, den das Erste am Sonntag um 20.15 Uhr ausstrahlt. Diesmal wird das Vertrauen zwischen Odenthal und ihrer engsten Mitarbeiterin Johanna Stern (Lisa Bitter) auf eine harte Probe gestellt.

Der TV-Dauerbrenner beginnt mit einem Schockmoment im Krematorium. Der vermeintlich Tote lebt noch - oder doch nicht? Es ist der Auftakt zu einem anspruchsvollen Handlungs-Irrgarten (Buch: Stefan Dähnert). Zunächst führen die Ermittlungen in ein Seniorenheim. Der keineswegs zuckerkranke Fritz Herrweg ist dort offenbar an einer Überdosis Insulin gestorben. Sollen die älteren Menschen etwa einen höheren Pflegegrad bekommen, damit das Heim mehr Geld verdient? Dafür gibt es Anhaltspunkte - aber gibt es auch gerichtsfeste Beweise?

Wer glaubt, der „Tatort“ von Regisseur Tom Lass sei nur ein weiterer Thriller der Sorte „Wer war es?“, irrt gewaltig. Behutsam entwickelt sich der Sonntagskrimi zu einer hochexplosiven Mischung aus Vergangenheitsbewältigung und Selbstjustiz. Mittendrin: Lenas Tante Niki (Ursula Werner), eine scharfzüngige pensionierte Staatsanwältin, deren Besuch wohl nicht nur der verwandten Kommissarin gilt. Es mangelt nicht an Streit zwischen beiden. Spöttisch tituliert Odenthal ihre Tante als „Miss Marple“, die wiederum nennt ihre Nichte penetrant „Lenchen“. Wie die es im „provinziellen Ludwigshafen“ bloß aushalten könne, fragt Niki. „Ich werde der Stadt halt immer ähnlicher“, kontert die Kommissarin lakonisch. „Mir gefällt es.“ Ihr Schlagabtausch gehört zu den zahlreichen Stärken dieses Krimis.

Unmerklich wird der Ton ernster, je weiter sich die Protagonisten in die Vergangenheit des Opfers und der Verdächtigen vortasten. Es ist eine braune Vergangenheit. Auf einem Friedhofskranz prangt die SS-Parole „Meine Ehre heißt Treue“, und die betagten Trauergäste schmettern die Hitlerjugend-Verse „Heute gehört uns Deutschland und morgen die ganze Welt“. Spätestens hier nimmt der „Tatort“ eine drastische Wende. Recherchen von Johanna Stern in der elsässischen KZ-Gedenkstätte Natzweiler-Struthof beseitigen letzte Zweifel.

Mit starken Dialogen lotet dieser 77. Odenthal-„Tatort“ seine Themen aus. Dabei entwickelt sich auch ein Katz- und Maus-Spiel zwischen der energiegeladenen Odenthal und ihrer Kollegin Stern, die sich gegenseitig einiges verheimlichen. Eingefangen wird dies in der stilsicher erzählten Folge von einer starken Kamera (Michael Merkel).

„Ein wirklich spannender, skurriler und bitterer Fall, der nicht nur eine überraschende Wende nimmt“, meint Folkerts. „Es gibt viele Geheimnisse zu lüften, viel Pizza und Wodka. Und eine Lena, die ihr Vertrauen in sich selbst prüfen muss.“ Auch Stern-Darstellerin Bitter spricht von einem besonderen „Tatort“: „Im Zentrum steht Lenas Tante, die sich als eine sehr geheimnisvolle Frau entpuppt und die mit uns tief in die deutsche Vergangenheit reist. Ein wichtiger Film.“

Die Story ist das Wichtigste. Aber auch die Schauspielerinnen und Schauspieler tragen diesen Krimi, etwa Rüdiger Vogler als schrulliger Heimbewohner und Maja Zeco als ausdrucksstarke Krankenschwester. Köstlich auch Johannes Dullin als verliebter Arzt und Niklas Kohrt als Verschwörungstheoretiker. „Lenas Tante“ funktioniert auch, weil die Musik (Manouk Roussyalian) den Film wunderbar begleitet.

Tante Niki sei Lena gegenüber oft übergriffig, sagt Regisseur Lass im Heft zum Film. Die Kommissarin müsse also lernen, sich durchzusetzen - „als Abnabelungsprozess“. Letztlich glaube er aber, dass sich beide nie zur Ruhe setzen würden. „Genau wie der "Tatort" und das deutsche Fernsehen“, meint Lass: „Sie können einfach nicht aufhören.“