„Bruder Eichmann“ Theaterstück: Wir Ottonormalvergaser

Leo Chass (Dominique Bals; links) befragt Adolf Eichmann (Ralf Hocke; rechts). Dank LED-Leinwand soll der notorische Lügner den Zuschauern nicht davonkommen. Foto: /Harald Dietz

Das Theater Hof zeigt „Bruder Eichmann“. Das Stück über den „Architekten des Holocaust“ legt offen, wie anfällig wir sind für Kadavergehorsam.

 
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Man stelle sich das einmal vor: Da treibt ein Flüchtlingsboot, womöglich in desolatem Zustand, auf dem Mittelmeer. Doch Sie, als Mitarbeiter von Frontex, entscheiden sich dagegen, diese Menschen auf das Festland zu lassen – weil das, dem Gesetz nach, nur mit gültigem PCR-Test möglich ist. Anhand dieses Beispiels hat Regisseur Thomas Schindler seinen Schauspielern verklickert, was uns Heinar Kipphardts „Bruder Eichmann“ heute noch zu sagen hat. Das Theater Hof zeigt das – nicht unumstrittene – Dokumentarstück in seinem „Zyklus wider das Vergessen“, der an die Gräuel des Nationalsozialismus erinnern soll, an der Seite der KZ-Oper „Helena Citrónová“ und der Widerstands-Oper „Die weiße Rose“.

Adolf Eichmann gilt heute als „Architekt des Holocaust“. Im nationalsozialistischen Berlin leitete er das sogenannte Judenreferat, koordinierte die Zugtransporte, die Menschen in Konzentrationslager beförderten. Im Prozess 1961 in Jerusalem betonte er, er habe lediglich Befehle ausgeführt. Kipphardt kompiliert in seinem Stück Auszüge aus den Protokollen der über 275 Stunden langen Verhöre, die der israelische Polizeihauptmann Avner Less – im Stück: Leo Chass (gespielt von Dominique Bals) – mit Eichmann (in Hof gegeben von Ralf Hocke) führte.

Hinter der Vernichtung von sechs Millionen Menschen stand ausgerechnet: ein Apparatschik. „Manchmal braucht es wenig zum Massenmord“, sagt Regisseur Thomas Schindler. Und das ist ja eben das Perfide: „Bruder Eichmann“ ist kein shakespear’scher „dreiarmiger Tyrann wie Richard III.“, den der Zuschauer gerade ob seiner monströsen Züge leicht abstrahieren kann. Dieser klavierspielende Familienvater Eichmann – er veranlasste die berühmte Existenzphilosophin Hannah Arendt, die dem Prozess beiwohnte, dazu, den Begriff der „Banalität des Bösen“ zu prägen.

Diesem folgt auch Schindler mit seiner Kipphardt-Inszenierung: „Unter den ‚richtigen’ Umständen wird aus dem Ottonormalverbraucher ein Ottonormalvergaser.“ Dass es diese Umstände gibt, dem gelte es entgegenzutreten. „Und man kann immer etwas tun“, ist der Theatermacher überzeugt. „Ich habe Geschichte studiert und ich kenne keinen einzigen Fall, in dem unter dem NS-Regime jemand zu Schaden gekommen wäre, weil er sich einem Befehl widersetzte – von einem möglichen Schaden an der eigenen Karriere abgesehen.“ Wo ein Gesetzestext den Menschenrechten entgegenstehe, gelte es, auf das Problem aufmerksam zu machen und zu handeln. Auch wenn das bedeute, zum Gesetzesbrecher zu werden.

Ob er dem Menschen hinter dem Verbrecher Eichmann bei der Vorbereitung des Stücks auch ein wenig nahe gekommen sei? „Ich weiß nicht, ob man so jemandem überhaupt nahe kommen möchte“, sagt Schindler. „Eichmanns Seele interessiert mich nicht.“ Szenen wie der emotionale Abschied von der Ehefrau fielen in seiner etwa 85 Minuten langen Strichfassung dem Rotstift zum Opfer. In seiner Inszenierung geht es um das Verstehen – eines Mechanismus –, keinesfalls um Verständnis – für eine Person. Dass man für den notorischen Sturkopf Eichmann, der sich mit allen Mitteln um das Bereuen zu drücken versucht, nur allzu leicht ein gewisses Maß an Sympathie entwickeln könne – so lautete ein Kritikpunkt nach den ersten Aufführungen des Werks 1983.

Auch die Analogie-Szenen, die Kipphardt einbaute, um das Universale des eichmann’schen Kadavergehorsam in Bezug auf sein Heute herauszuarbeiten, wird es in Hof nicht zu sehen geben. Der Autor setzte damit die Shoah in Beziehung etwa zu den Selbstmorden der RAF-Anführer – von Kipphardt, wie in der damaligen Linken durchaus en vogue, nicht als solche anerkannt –, einem Bomberpiloten in Vietnam, dem Atombombenabwurf über Nagasaki, Israels nationalistischer Palästinenserpolitik oder den Türkenwitzen eines deutschen Moderators. Thomas Schindler empfindet das als relativierend. „Der Holocaust ist als Zivilisationsbruche singulär. Die fabrikmäßige Ermordung von Menschen, das hat es in der Menschheitsgeschichte, soweit ich sie überblicke, nicht davor und nicht danach gegeben“, betont der Regisseur. Hatte sich Kipphardts Witwe gegen Streichungen bei Inszenierungen von „Bruder Eichmann" noch lange Zeit gesträubt, sind solche inzwischen in Absprache mit dem Verlag möglich. Auf Kipphardts Analogien zu verzichten, das sei inzwischen gängige Praxis im Umgang mit seinem Stück. „Die Szenen sind ja inzwischen selbst historisch.“

Den Hofer Zuschauern sollen Eichmanns Lügen nicht entgehen. Auf einer LED-Leinwand ist, nach einer Idee von Ausstatterin Annette Mahlendorf, stets auch die vom Publikum abgewandte Seite des Befragten zu sehen – in Großaufnahme. Wer sich für „Bruder Eichmann“ in Hof entscheidet, wird zum Hinsehen gezwungen. Umso besser, mit Ralf Hocke einen Darsteller in der Hauptrolle zu haben, der zu einem sehr nuancierten, vielfarbigen Spiel in der Lage sei, lobt Schindler. So kann das Publikum den Protagonisten selbst entlarven, eigene Schlüsse ziehen, eigene Analogien finden. Und das sei ja ohnehin die Stärke von Theater – auch bei solchen Stoffen, findet Schindler: Das Auditorium mit echten, schwitzenden Menschen zu konfrontieren. Da kommt im Kopf oft mehr an als bei Guido Knopp im TV vor dem Schlafengehen.

Aufführungen:

Für die Premiere am Donnerstag, 1. Dezember, im Studio des Theaters Hof gibt es noch Karten. Weitere Vorstellungen von „Bruder Eichmann“: Freitag, 9. Dezember; Sonntag, 11. Dezember; Samstag, 7. Januar; Sonntag, 22. Januar. Beginn jeweils um 19.30 Uhr. Karten gibt es an der Theaterkasse (E-Mail:kasse@theater-hof.de; Telefon: 09281/7070-290).

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