Das Ukraine-Tagebuch „Russland hat sich von jeder Menschlichkeit verabschiedet“

Thomas Simmler Foto: privat

Thomas Simmler erlebt ein ganz neues Weihnachten in der Ukraine, an dem viele Einheimische trotz des Krieges an alten Traditionen festhalten. Er selbst gönnt sich eine heimische Delikatesse und hofft auf einen friedlichen Jahreswechsel.

 
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Das Weihnachtsfest feiern viele Menschen doch erst Anfang Januar. Auch wenn die Kirche eine Reform des Termins als Zeichen der Abkehr von Russland plant, halten viele an der Tradition fest – vor allem die Älteren. Vielleicht auch deshalb, weil schon so vieles anders ist durch den Krieg.

Ich habe die Glocken der Kirchen von Truskawez gehört. Erst die katholische, danach die orthodoxe und so weiter. Der Gottesdienst läuft anders an Weihnachten ab als bei uns. Er dauert ewig und die Besucher kommen und gehen.

Ich kann nicht sagen, dass die Menschen hier gläubiger sind als in Deutschland. Das war vor 30 Jahren anders. In der Sowjetunion war die Kirche ja verboten. Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus erlebte sie dann einen ungeheuren Zulauf. 1993 war ich zum Beispiel als Reiseleiter mit einer Gruppe in einem Kloster in der Nähe von Moskau. Ich sehe die Menschenmassen noch vor mir. Es war unglaublich. Aber das hat sich geändert.

Ich habe mir an Weihnachten vom Markt eine Forelle geholt. Frisch aus den nahen Karpaten und auf dem Grill zubereitet. Während eine frische Forelle in vielen Teilen der Ukraine nicht auf den Teller kommt, gilt sie hier im Westen des Landes als Delikatesse. Ansonsten war ich Weihnachten im Stress. So viele Anrufe und Nachrichten aus Deutschland, aber auch aus der Ukraine haben mich erreicht. Ich wusste gar nicht, dass ich so viele Freunde habe (lacht).

Dass die Russen an Heiligabend den Marktplatz von Cherson bombardiert und viele Zivilisten getötet haben, ist grausam. Aber es wundert niemanden in der Ukraine. Russland hat sich von jeder Menschlichkeit verabschiedet. Ich kann meine Bekannte in Cherson seit dem Abzug der Russen und den folgenden Attacken nicht mehr erreichen. Das ist sehr beunruhigend. Die Telefonverbindungen funktionieren nicht mehr. Vielleicht könnte sie eine Postkarte schreiben. Aber auch das ist unsicher, zumal die Russen viele Logistikunternehmen wie die Post angreifen.

Ein Feuerwerk an Silvester ist hier genauso Kult wie in Deutschland. Aber ich glaube, dass es heuer sehr ruhig bleibt. Wenn überhaupt, dann kommt das „Feuerwerk“ vom russischen Militär. Den Ukrainern ist nicht nach fröhlicher Kracherei. Die Situation ist zu bedrückend. Ich werde wohl zu Hause bleiben. Es macht keinen Spaß, sich mit dem Handy als Lichtquelle durch die Dunkelheit zu tasten.

Hans-Thomas Simmler aus Mainleus hält sich seit vielen Monaten in der Ukraine auf. Nach Angriffen der Russen in der Nähe des Atomkraftwerks Saporischschja ist er nun im Westen des Landes untergekommen.

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