Das Ukraine-Tagebuch „Unsere Nachbarin hat alles verloren“

Thomas Simmler
Der aus Mainleus bei Kulmbach stammende Thomas Simmler. Foto: privat

Trotz der Angriffe der russischen Truppen auf Marhanez sind die Tochter von Thomas Simmer und deren Mutter dorthin zurückgekehrt. Sie wollen das Haus der Familie retten.

 
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Unsere Nachbarin wird überleben. Nachdem vor einer Woche eine russische Rakete bei ihr eingeschlagen hat, hat sie die Intensivstation jetzt verlassen. Ihr Bein ist verletzt und sie hat bei diesem barbarischen Angriff ein Auge verloren. Aber sie wird leben. Wenigstens das. Das Verrückte ist: Die alte Dame ist Russin. Sie greifen also sogar ihre eigenen Leute an.... Die Menschen in Marhanez haben jetzt für die Frau gesammelt. Sie hat alles verloren und braucht jetzt erst einmal das Allernötigste wie Kleidung.

Gestern wurde Marhanez erneut angegriffen. Zwei Menschen sind gestorben. Trotzdem ist Irina mit unserer Tochter Sofia wieder dort. Sie hat die Fenster unseres Hauses mit Platten verrammeln lassen und will auch das von der Rakete zerstörte Dach abdecken lassen. Ich sage ihr: Vergiss das Haus, das interessiert doch jetzt niemanden. Bringt Euch lieber in Sicherheit.

Ich selbst werde nicht nach Marhanez zurückkehren. Es ist einfach zu gefährlich. Auch wenn ich es mir anders wünschen würde und es mich ärgert, dass sie nicht vernünftiger ist: Ein bisschen kann ich Irina natürlich auch verstehen. Marhanez ist alles für sie. Ihre Heimat. Die Eltern, die ganze Familie lebt dort. Ich hoffe nur, dass es kein Fehler ist.

Zugegeben: In Dnipro, wo sie zuletzt mit Sofia bei ihrer Schwester gewohnt hat, wird die Lage auch kritisch. Die Russen haben mit ihren Raketen gestern eine Frau, deren Mutter und die beiden Kinder umgebracht. Je stärker ihre Armee in Cherson oder im Osten unter Druck gerät, desto wilder schießen sie um sich – es ist die rohe Gewalt.

Bei mir im Westen des Landes ist es sehr ruhig. Vor zehn Minuten gab es einen Luftalarm, aber das war vermutlich ein landesweiter und ist der erste seit vielen Tagen gewesen. Ich kann hier auch wieder schlafen. Das war in Marhanez ganz anders. Dort lag ich bis vier Uhr früh oft wach. Man hat gelauscht oder nachgedacht und war nervös. Jetzt ist es ganz anders. Wenn die Gesamtsituation nicht so schlimm wäre, würde es sich wie Urlaub anfühlen.

Hans-Thomas Simmler aus Mainleus hält sich seit vielen Monaten in der Ukraine auf. Nach Angriffen der Russen in der Nähe des Atomkraftwerks Saporischschja ist er von dort in den Westen des Landes geflohen.

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