Und dieser Prozess wirkt zu Teilen wie vor einiger Zeit die Debatte um die Mohammed-Karikaturen – nur dass dieses Mal der ethische Referenzrahmen auf Seiten des Fortschritts zu sein scheint. Eine radikale Empfindsamkeit, die versucht, sich als gesamtgesellschaftliche Norm zu etablieren.
Nun also soll in Europa und den USA gleichsam die Kunstgeschichte hochnotpeinlich examiniert werden. Die Manchester Art Gallery hat, wenigstens vorübergehend, ein Bild aus dem Jahr 1896 abgehängt, "Hylas und die Nymphen" von J.W. Waterhouse. Es zeige, so hieß es, den nackten weiblichen Körper als pure Dekoration. Das mag so sein – aber wollen wir tatsächlich nachholend die Kunstgeschichte umschreiben, so wie aus Mark Twains "Tom Sawyer" in einer Ausgabe alle "Nigger" eliminiert wurden, so wie Astrid Lindgrens "Negerkönig" zum "Südseekönig" wurde? Was auch bedeuten würde, so gut wie alle klassischen Gemälde abzuhängen, deren alttestamentarischen Sujets Batheseba und der lüsterne David sind oder Susanna im Bade und die lüsternen Alten, also auch Rembrandt und Tintoretto in die Depots zu verbannen?
Das scheint absurd, aber es wäre die Konsequenz. Es gibt Forderungen, das Werk des Malers Balthus (1908/2001) im New Yorker Metropolitan Museum of Art zu entfernen. In der Tat, kann man diesen Blick zwischen die geöffneten Beine der 13-jährigen träumenden Therese (1938) pornografisch empfinden und die Sexualisierung dieses Mädchens ist offenkundig – doch auch hier liegt die Art der Betrachtung im Auge des Betrachters. Man kann dieses Bild sehen als einen lächelnden Blick auf ein sich dem Erwachen entgegen träumendes Mädchen, das sich seiner selbst noch nicht recht bewusst ist. So wie Gustave Courbets legendärer "Ursprung der Welt", die Konzentration auf eine behaarte Vulva, entweder eine schamlose Präsentation des Genitals als Objekt ist oder ein durch den Titel anregender Gedanke, der die rein sexuelle Betrachtung konterkariert. Vermutlich ist es für die Mehrheit der Betrachter beides.
"Die Betrachtung weiblicher Schönheit
und Sexualität wird unausrottbar sein."
Diese Mehrdeutigkeit, dieses Schweben in den Grauzonen einer tatsächlichen oder ver-meintlichen Moral der Kunst auf den Index zu setzen, bedeutete, die Kunst im Cleanroom einer Moral einzuhegen. Geschichte, auch die der Kunst, lässt sich nicht rückwirkend korrigieren, sie ist eine Art Testat der gesellschaftlichen und künstlerischen Entwicklung – und sie ist ein Wert aus eigenem Recht. Im Übrigen wird, wer die reine Pornografie sucht, das eher nicht in einem edlen Museum tun oder in einem Bildband, das Netz ist schneller, billiger und tabuloser.
Als die Vorwürfe gegen Kevin Spacey, hier waren Männer die Opfer, an die Öffentlichkeit kamen, da entschied das Streaming-Portal Netflix, die letzte Staffel der weltweit gerühmten Serie "House of Cards" ohne ihren Star zu drehen. Das war nachvollziehbar, die Debatte über Spacey hätte die Produktion vollkommen überlagert. Aber was wird aus den bisherigen Arbeiten Spaceys? Der zweifache Oscar-Preisträger bleibt doch ein herausragender Schauspieler, "American Beauty" bleibt doch eine herausragende Leistung. Was ist mit Roman Polanski, was mit Woody Allen? War da nicht auch was mit Dustin Hoffman? Soll ein schlechtes Gewissen haben, wer künftig ihre Filme zeigen oder sehen will?
Es ist keine neue Erkenntnis, dass der Wert, die Kraft eines Kunstwerkes in keinem zwingenden Zusammenhang stehen mit der Moral, der Integrität seines Schöpfers. Nur, dass diese alte Tatsache jetzt neu um ihre Akzeptanz zu ringen hat. Es gab die jungen Mädchen von Balthus schon lang, so wie es die Vorwürfe gegen Polanski und Allen gab. Der Antisemitismus von Richard Wagner wurde immer mal wieder thematisiert, was aber seinem Werk, mit der begreiflichen Ausnahme Israel, nichts von dessen Faszination nahm. Die Frage ist also, ob die Debatte in der Folge von MeToo unseren Umgang mit Kunst auf Dauer verändern wird und darf. Und die Antwort kann nur heißen: Nein.
Denn dann hätte dieser hochwichtige Aufschrei gegen den Missbrauch männlicher Macht eine fatale Folge für die Freiheit der Kunst. Was MeToo verändern wird, und das ist der nicht zu überschätzende Gewinn, ist eine geschärfte Sensibilität für den Missbrauch, auch den subtilen, von Macht und in der Folge auch dessen Einhegung. Dass sich in diesem Prozess, wie bei jeder neuen Kraft, auch extreme, ideologisch einseitige Positionen ins Getümmel stürzen, das ist gleichsam ein Kollateralschaden jeder gesellschaftlichen Entwicklung, das muss man aushalten und aufhalten. Wir sollten jedoch über der Albernheit mancher Position nicht die Ernsthaftigkeit des Prinzips vergessen.
Die Betrachtung weiblicher Schönheit und Sexualität wird, im Leben wie in der Kunst, unausrottbar sein. Und die Debatte darüber, was Kunst kann und darf, wird nach diesen Aufregungen wieder in der Normalität ankommen, nach Jahrhunderten radikaler Ignoranz durch Männer und Jahren radikaler Empfindsamkeit durch Frauen. Bleiben aber wird die geschärfte Aufmerksamkeit für das Verhalten der Mächtigen.
Am Ende des letzten Teiles von "House of Cards", sagt die Figur Claire Underwood, der Co-Star, groß in die Kamera: "Jetzt bin ich dran". Das galt natürlich der Figur Frank Underwood und den damals geplanten Fortgang der Story. Heute gilt der Satz der Schauspielerin Robin Wright, die sich mehrfach über ungleiche Gagen beklagt hatte, auch dem Schauspieler Kevin Spacey, der diesen rücksichtslosen Typen wohl nicht nur spielte. Dass auch Stars wie er fallen können wie ein Kartenhaus, wenn sie sich benehmen wie er, das ist eine gute Botschaft. Dass er dennoch ein großartiger Schauspieler bleibt, das ist eine notwendige Ergänzung. Ob man diese Filme künftig noch sehen will, das soll ein jeder für sich entscheiden, nicht eine Ethik-Kommission für alle.