Stressforscher Mazda Adli „Stadtleben hinterlässt sogar Spuren im Gehirn“

Jana Gäng
Die emotionale Stadt: Stadtleben beeinflusst, wie sich Menschen fühlen und verhalten. Foto: Richard Múdry, Jana Gäng/Adobe Stock/Алексей Панков, Dedraw Studio

Stadtleben ist eng, laut und für einige einsam. Im Interview erklärt Professor Mazda Adli, warum Städter ein größeres Risiko haben, an Depression zu erkranken, kritisiert Bausünden in deutschen Innenstädten und lobt breite Bürgersteige.

 
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Der Geist des Städters ist verwöhnt, hat er doch die Museen und Parks, die Theater und Bibliotheken, die Clubs und Bars, die Sportanlagen, die Cafés. In der Stadt tobt das Leben nur einen Spaziergang entfernt und immer mehr Deutsche leben in Städten. 78 Prozent waren es laut Weltbank im Jahr 2021. Doch im Wimmeln des Großstadtlebens kann es auch einsam sein; seine Enge kann überwältigen. Im Interview erklärt der Stressforscher Professor Mazda Adli, wann Stadtleben krank macht und wie wir Städte bauen müssen, wenn immer mehr Menschen herziehen.

Herr Adli, Sie arbeiten daran, Berlin als emotionale Stadt zu kartieren. Inwiefern lösen Städte denn Emotionen aus?

Städte sind betriebsamer, enger, lauter, manchmal schmutziger. Das Leben in der Stadt beeinflusst unsere Psyche, unsere Emotionen und unser Verhalten. Stadtleben hinterlässt sogar Spuren im Gehirn. Bei Menschen, die in Städten aufgewachsen sind, sind emotionsverarbeitende Areale im Hirn kleiner. Ihr Gehirn reagiert auch anders auf Stress – die Stressantennen sind bei Stadtbewohnern empfindlicher ausgeprägt. Je größer die Stadt, desto aktiver sind bestimmte stressverarbeitende Hirnareale, wie etwa die Amygdala, der Mandelkern. Uns interessiert, wann die empfindlichen Stressantennen zu Eintrittspforten für psychische Krankheiten werden; welche Faktoren in der Stadt gesundheitsrelevant sind.

Und welche Faktoren sind das?

Es ist vor allem der Stress, den das Stadtleben auslöst, der krank machen kann. Wer in der Stadt lebt, hat im Vergleich zum Land ein deutlich höheres Risiko an einer Depression oder Angststörungen zu erkranken. Für Schizophrenie ist das Erkrankungsrisiko sogar doppelt so hoch. Wir müssen aber unterscheiden: Wenn es etwa in der U-Bahn zu eng ist und wir uns unwohl fühlen, ist das ein temporäres Gefühl. Theoretisch könnten wir jederzeit aussteigen. Krank macht uns dieser Stress in der Regel nicht. Problematisch sind Dauerstressoren, bei denen wir das Gefühl haben, uns ihnen nicht aus eigener Kraft entziehen zu können. Dazu gehören Formen von sozialem Stress, die in Städten häufiger vorkommen.

Professor Mazda Adli erforscht, wann Stadtleben krank machen kann. Foto: Annette Koroll

Woher kommt der soziale Stress in der Stadt?

Es gibt zum einen Dichtestress – wenn es zu eng ist, der Wohnraum nicht ausreicht, man kein eigenes Zimmer und keinen Rückzugsraum hat, um sich der Betriebsamkeit der Stadt auch mal zu entziehen…

…wenn sich der Städter also wie das Huhn in der Legebatterie fühlt.

Genau. Übermäßige soziale Dichte führt bei Tieren zu Verhaltensänderungen wie Federpicken, zu mehr Krankheiten, sogar zu vermehrter Sterblichkeit. Das gleiche gilt für Menschen, die auf zu engem Wohnraum leben. In deutschen Großstädten lebt jede dritte Familie auf zu engem Wohnraum meldet das Institut der deutschen Wirtschaft. Das trifft besonders junge Familien. Und das führt zu psychischen Problemen, zu mehr Stress, bei Kindern zu Konzentrations- und Schlafstörungen, zu Aggressivität.

Andererseits leben in der Stadt aber mehr Menschen allein als auf dem Land.

Das ist das Kuriose: Wo wir über Dichte sprechen, wird gleichzeitig die Einsamkeit zum Problem. Isolationsstress ist die zweite Form von gesundheitsrelevantem Stress, die wir genauer untersuchen. Etwa ein Drittel unserer Großstädter lebt allein. In Berlin wohnt sogar hinter jeder zweiten Haustüre nur eine Person. Es besteht ein Risiko, in der Anonymität der Stadt zu vereinsamen. Und einsam wird man gerade unter anderen Menschen – in der Stadt, wo das Leben um einen herum tobt.

Bis 2050 werden voraussichtlich 80 Prozent der Menschen weltweit in Städten leben. Die Städte werden dann größer sein, die Bebauung dichter. Wächst das Risiko, in der Stadt krank zu werden?

Dichte ist etwas Ambivalentes. Sie kann zur Enge werden und Territorialstress erzeugen. Gleichzeitig macht die Kompaktheit der Stadt auch einen ihrer Vorteile aus. Viele Ressourcen sind fußläufig erreichbar: Gesundheitsinfrastruktur, Geschäfte, kulturelle Einrichtungen oder Bildungsorte. Daher ist die Frage: Wie müssen wir Dichte organisieren, damit sie uns zum Vorteil gereicht? Daran forschen wir.

Haben Sie bereits Erkenntnisse?

Wir stehen am Anfang. Allerdings können wir davon ausgehen, dass eine gut organisierte Dichte Rückzugsräume und Privatsphäre gewährt, auch bei kleiner Wohnfläche. Im öffentlichen Raum gibt es Orte, die es erlauben mit anderen Menschen in Kontakt zu treten und Isolationsstress entgegenwirken. Grünflächen sind Stress-Puffer, sie verbessern unsere Resilienz und wirken gegen Stress. Interessant ist, dass wir in einer Studie herausgefunden haben, dass die positiven Effekte von Grünflächen sich sogar noch in einem Radius von mehreren Kilometern um die eigene Adresse bemerkbar machen – der Park muss also nicht direkt unter meinem Fenster sein.

Sie haben Grünflächen angesprochen. Wie kann dieser Interaktionsraum noch aussehen?

Dazu gehören die breiten Bürgersteige, die wir hier vielerorts in Berlin haben. Gehwege, die nicht nur Transitzonen sind, sondern zum Verweilen einladen. Hier kann man eine Mittagspause verbringen, ohne den Weg zu versperren. Ich lobe auch immer unsere Baubrachen zwischen den Häusern in Berlin, die häufig als informeller öffentlicher Raum von den Nachbarn belebt werden. Erstaunlicherweise gehören gut funktionierende Orte nicht immer zu den schönsten. Besser ist es, den Menschen Gestaltungsspielraum zu geben. Zum Beispiel, dass sie Sitzgelegenheiten verschieben können. Parks für viel Geld mit festgeschraubten Bänken funktionieren oft nicht so gut. Die Zeit vor der Haustür ist für die Psyche besser als die dahinter. Dafür Straßen mit einem Mix aus Wohnen, Geschäften des täglichen Bedarfs, Cafés und Kultureinrichtungen besser als reine Wohnviertel.

Cafés, Parks, Theater – das klingt nach wohlhabenden Vierteln. Aus größeren US-amerikanischen Städten wissen wir, dass der Zugang zu Grün ungerecht verteilt ist.

Ja, Menschen, die in Armut leben, würde ich zu den Risikogruppen in Bezug auf sozialen Stress in der Stadt und damit für psychische Erkrankungen zählen. Auch Menschen mit einer Migrationsgeschichte, die häufig Ausschlusserfahrungen machen. Oder Ältere, deren Aktionsradius sich verkleinert. In der Stadt sind alle Menschen sozialem Stress stärker ausgesetzt als auf dem Land. Ein Großteil der Bewohner kann ihn aber durch stadteigene Vorteile ausgleichen. Manche nicht – zum Beispiel, weil der Zugang zu den Ressourcen nicht immer gerecht verteilt ist.

Psychologen, Stadtplaner und Architekten arbeiten erst seit Kurzem in der Neurourbanistik systematisch zusammen. Wie gut abgestimmt auf die psychischen Bedürfnisse sind unsere Städte denn bislang gebaut worden?

Während die körperliche Gesundheit in den letzten Jahren bei der Stadtplanung vermehrt eine Rolle spielte, wurden psychische Bedürfnisse eher vernachlässigt. Wir versuchen das im Austausch mit Politik und Verwaltungen zu ändern.

Und woran erkennen Sie das? Was sind psychologische Bausünden in deutschen Städten?

Ich sehe mit Sorge auf manche Fußgängerzone, die tagsüber als Einkaufszone dient und abends fast ausgestorben ist. Städteplanerische Monokultur statt Interaktionsfläche. Problematisch sind auch Straßenzüge, in denen die Sockelgeschosse nicht belebt sind – Bürohausareale, in denen man meterweit läuft, ohne dass ein Schaufenster oder eine offene Fassade dazu veranlasst, in Interaktion mit dem Gebäude zu treten. Aus meinem Fenster in Berlin blicke ich in diesem Moment auf den Gendarmenmarkt, der üblicherweise viele Berliner und Touristen anzieht. Jetzt wird er zwei Jahre lang umgebaut und ist blickdicht umzäunt. Jetzt läuft man als Passant hunderte von Metern an einer toten Wand entlang. Man kann nicht einmal reingucken, wenn man vorbeigeht. Das ist nicht nur ein Jammer fürs Stadtbild, sondern auch nicht gut für die Psyche.

Nun sind diese Städte und Straßen aber einmal da. Wie kann man sie noch retten?

Es braucht gar nicht den großen Wurf. Es reicht, mit Bedacht für Stimulation zu sorgen, damit die Leute stehenbleiben und Zeit im öffentlichen Raum verbringen. Dafür muss man ausprobieren. In Berlin wurde zum Beispiel die Friedrichstraße für Autos gesperrt und Sitzgelegenheiten aufgestellt. Nur leider sehe ich da selten jemanden sitzen. In einem unserer aktuellen Projekte testen Architekten und Stadtplaner die psychologischen Effekte mobiler kleiner Wasserelemente und Grünflächen. Wir brauchen mehr Wissen darüber, welche Art von öffentlichen Raum funktioniert und die Menschen anzieht.

Zur Person

Forschung
Professor Mazda Adli ist Psychiater und Stressforscher. Er ist Chefarzt der Fliedner Klinik Berlin und Leiter des Forschungsbereichs Affektive Erkrankungen der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Berliner Charité.

Neurourbanistik
Adli ist Vorsitzender des Interdisziplinären Forums Neurourbanistik, an dem Neurowissenschaftler, Architekten, Sozialwissenschaftler und Stadtplaner den Einfluss des Stadtlebens auf Emotionen und Verhalten erforschen. Im Citizen Science-Projekt „Deine emotionale Stadt“ arbeiten sie an einer Emotionsstadtkarte Berlins.

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