Ja, ich erinnere mich noch gut an eine Geschichte aus meiner Schulzeit. In der Grundschule wurde ein Schüler von der Lehrerin rausgepickt und verbal gequält. Das war wirklich emotionale Gewalt. Er hat sich erst gewehrt und als das nichts nutzte, hat er sich hingesetzt und bitterlich geweint. Das hat mich damals sehr berührt und mir Respekt eingeflößt, weil ich gespürt habe, dass er sich absolut angemessen verhält. Er hat seine Ohnmacht und seine Schwäche gezeigt, anstatt sie runterzuschlucken.
Warum empfinden viele es dennoch als Schwäche, wenn sie sich verletzlich zeigen?
Das hängt damit zusammen, welche Werte in einer Gesellschaft herrschen, also ob wir Verletzlichkeit und Schwächen als Teil des Menschseins anerkennen oder ob wir Bullys schätzen, die sich egoistisch und rücksichtslos durchboxen. Wir sehen es gerade weltweit und leider auch in Deutschland, dass grobes Machtgebaren belohnt wird. Hinzu kommen perfide Manipulationstechniken, um einem wirklichen Gespräch aus dem Weg zu gehen.
Was glauben Sie, warum es sich dahin entwickelt hat?
Wir haben wenig gute Vorbilder, Fairness und wertschätzende Kommunikation ist langweiliges Entertainment. In der Politik darf niemand mehr Fehler zugeben. Es geht oft um Angriff und Entwertung und darum, Hass zu schüren. Kein Politiker darf sich noch öffentlich hinstellen und sagen: ‚Das war ein Fehler von mir.‘ Dabei ist Verletzlichkeit eine humane Superpower. Fehler zu erkennen und sie einzugestehen, ist eine große Stärke.
Warum sehen das viele Menschen nicht?
Viele erwachsene Menschen haben nie gelernt, Verantwortung für ihre Bedürfnisse zu übernehmen. Wer intrinsische Motivation hat und sein Leben selbstwirksam gestaltet, der sucht sein Heil weniger in autoritären Politikern. Diese Wahl entsteht ja oft nicht aus einer reifen Haltung heraus, sondern aus einer unbewussten Suche nach überstarken Elternfiguren.
Wie würde es besser gehen?
Im Prinzip beobachte ich dieses Problem in meiner Praxis bei vielen Paaren. Jeder sagt, der andere sei schuld. Eine wirkliche Lösung ist aber erst in Sicht, wenn jeder bei sich anfängt, sich also fragt: Was ist mein Anteil an diesem Konflikt? Dann fangen wir an, die Dynamik zu verstehen und was wir selbst dazu beitragen. Idealerweise übernehmen wir dann Verantwortung und verändern das, was uns nicht gefällt. Wir reparieren. Das ist manchmal Schwerstarbeit. Aber es ist definitiv besser und zielführender, als wenn wir uns ständig als Opfer der Umstände sehen.
Selbstwirksamkeit ist ja ein Begriff, der sehr in Mode ist, andererseits kritisieren viele, dass man nicht alles selbst lösen könnte. Wie finden wir da einen Mittelweg?
Selbstwirksamkeit bedeutet im Rahmen der Möglichkeiten handlungsfähig zu bleiben. Dazu gehört, die systemischen Probleme zu erkennen, aber auch die eigenen Begrenzungen. Oder eben auf die Möglichkeiten, die wir bisher noch nicht ausgeschöpft haben, wie beispielsweise für etwas zu kämpfen, uns mit anderen zu verbünden. Selbstwirksamkeit ist ein sehr ermächtigendes Gefühl, es ist kein leeres „Tschacka, alles ist möglich“, sondern ein Anerkennen der durchaus harten oder ungerechten Realität, und trotzdem oder gerade deshalb für das einzustehen, was uns wichtig ist.
Also sich nicht nur auf die soziale Ungerechtigkeit konzentrieren, sondern selbst etwas dagegen zu unternehmen?
Genau. Nicht Ungerechtigkeiten verleugnen, aber auch nicht in die totale Ohnmacht fallen. Wach bleiben und Missstände benennen, die uns selbst, aber auch andere betreffen. Eine Person, die aus einem armen, ungebildet Elternhaus stammt, könnte sagen: Das geht schon seit Generationen so, ich komme da auch nicht raus. Oder sie könnte versuchen, die erste Person zu sein, die Abitur macht und studiert oder sich einen finanziell einträglichen Beruf sucht. Das ist natürlich anstrengend und es braucht Mut. Und immer wieder auch andere Menschen, die uns zur Seite stehen und uns unterstützen.
Sie schreiben zu Beginn über Ihren Schwiegervater, der Therapien ablehnt und meint, wer weiß, was man da herausfindet. Warum ist es für viele verpönt, Hilfe anzunehmen?
Weil sie sich schämen, sich schwach fühlen. Dabei ist es mutig und stark, andere um Hilfe zu bitten oder professionelle Hilfe anzunehmen. Wir Menschen sind soziale Wesen, wir sind gar nicht darauf ausgerichtet, allein klarzukommen. Wir brauchen die Hilfe und den Spiegel von anderen – besonders wertschätzende Spiegelung ist wichtig für uns.
Wertschätzung zu zeigen, fällt vielen schwer. Wie geben wir anderen das Gefühl, dass wir sie verstehen?
Indem wir zuhören, ohne zu bewerten. Ich habe kürzlich einem amerikanischen Freund von einigen Schwierigkeiten erzählt, und er hat nur gesagt: ‚That sucks!’ (deutsch: „Das ist echt ätzend!“) Mehr muss man eigentlich oft gar nicht sagen. Das kann man auch einfach dann so stehen lassen und dann ist dies ein kleiner Moment der Verbindung.
Also keine Ratschläge geben?
Wenn jemand konkret darum bittet, dann schon. Aber meist hilft echtes Zuhören oder interessiertes Nachfragen mehr als zu schnell Lösungsvorschläge zu machen. Menschen wollen sich verstanden fühlen. Das ist eines der schönsten Gefühle der Welt. Wer sich verstanden und verbunden fühlt, ist nicht allein. Das ist Trost und Hoffnung in einem und dann ist plötzlich wieder alles möglich.
Psychologin und Therapeutin
Leben
Sandra Konrad, geboren um 1975, ist promovierte Psychologin und arbeitet seit 20 Jahren als systemische Einzel-, Paar- und Familientherapeutin in Hamburg und ist Sachbuchautorin. In ihrer wissenschaftlichen Arbeit hat sie transgenerationale Übertragungen innerhalb von Familien.
Werk
Bisher erschienen ist von ihr „Das bleibt in der Familie“, „Liebe machen“, „Das beherrschte Geschlecht“ und „Nicht ohne meine Eltern“. Ihr aktuelles Buch „Fühlen, was ist. Wie wir den Mut finden, uns selbst zu vertrauen“ ist vor kurzem im Piper Verlag erschienen. (nay)