Das Trauma des Entwurzeltwerdens sei die Quelle für ihre erstaunliche Widerstandsfähigkeit und Schaffenskraft, glaubt Dame Stephanie heute. Sie wollte unter Beweis stellen, dass es sich gelohnt hatte, ihr Leben zu retten. Etwa im Alter von zehn Jahren entdeckte sie ihre Begabung für Mathematik, die später zum Grundstein einer erstaunlichen Karriere werden sollte. Weil die Nonnen an der katholischen Mädchenschule, auf die sie ging, schon bald nicht mehr mithalten konnten, erhielt sie die Erlaubnis, an einer Schule für Jungs unterrichtet zu werden.
Dass sie sich in einem männlich dominierten Umfeld durchbeißen konnte, stellte Dame Stephanie später eindrucksvoll unter Beweis. Die Fächer, die sie interessierten, durfte sie als Frau an der Universität nicht studieren. Ein Job bei der Post bot ihr keine Aufstiegschancen. Daher bastelte sie bald an einer Karriere als selbstständige Software-Unternehmerin "Steve" Shirley. Der Erfolg ließ nicht lange auf sich warten.
Weil sexuelle Übergriffe am Arbeitsplatz damals gang und gäbe waren, machte sie es sich zum Ziel, in erster Linie Frauen zu beschäftigen. Oft waren es Mütter, die nach der Geburt ihrer Kinder nicht mehr in ihre frühere Beschäftigung zurückfanden, einige waren alleinerziehend. "Es war ein Weg, um die Ungleichheit auszugleichen", sagt sie heute. Ausgerechnet ein Gesetz, das die Gleichberechtigung fördern sollte, machte dieses Modell Mitte der 70er Jahre jedoch schließlich illegal.
Trotzdem machten viele der Praktiken, die Shirley schon in den 60ern bei ihrer Firma Freelance Programmers einführte, später Schule: Die Berücksichtigung ethischer Prinzipien, die Übereignung von Firmenanteilen an die Mitarbeiterinnen und das Home Office sind nur einige Beispiele. Heute gehört das Unternehmen zur Sopra Steria Gruppe.
Soziales Engagement liegt ihr am Herzen
Trotz ihres Erfolgs blieb sie von Leid nicht verschont. Ihr Sohn Giles entwickelte eine Autismusstörung. Die Krankheit, über die in den 60er Jahren so gut wie nichts bekannt war, hatte zur Folge, dass er ein Drittel seines Lebens im Krankenhaus verbringen musste. Damit er die Kliniken verlassen konnte, gründete Shirley ein Heim für Menschen mit Autismuserkrankungen, dessen erster Bewohner ihr Sohn wurde. Weitere Organisationen folgten.
Im Alter von 60 entschied sie, sich ausschließlich wohltätigen Zwecken zu widmen, die sie fortan mit demselben unternehmerischen Eifer betrieb wie ihr Software-Unternehmen. Im Jahr 2000 erhielt sie den Ritterschlag, durfte sich fortan Dame nennen. Später wurde sie sogar in den "Order of the Companions of Honour" aufgenommen.
Obwohl sie sich einst geschworen hatte, nie wieder einen Fuß auf deutschen Boden zu setzen und sich weigerte, Deutsch zu sprechen, ist sie inzwischen mit dem Land ihrer Geburt versöhnt. "Deutschland hat eindrucksvolle Anstrengungen unternommen, um seine Nazi-Vergangenheit zu bewältigen", sagt sie. Ihre Autobiografie wurde inzwischen unter dem Titel "Ein unmögliches Leben" auch auf Deutsch veröffentlicht. Eine Entschädigung der Bundesrepublik für das erlittene Unrecht, die sie zunächst abgelehnt hatte, nahm sie später an - um sie an eine Hilfsorganisation für minderjährige Flüchtlinge weiterzugeben.