Dabei spielt sich das Festival, abgesehen von ein paar Ausnahmen, in einer geografisch eng begrenzten Gegend ab: der knapp einen Kilometer langen Reeperbahn sowie ihrer Seitenstraßen - mit einem der dichtesten Musikclub-Netze des Erdballs. Die ganze Welt der populären Musik auf gerade mal einer "Sündenmeile". Doch wo anfangen, wo aufhören? Zumal unter den Unmengen von Bands echte Ausfälle nicht auszumachen waren, auch nicht in den kleinsten Hütten und selbst um die am wenigsten besuchte Mittagszeit. Die Veranstalter überlassen in Sachen Band-Auswahl halt nichts dem Zufall. Wer beim Reeperbahn-Festival auftritt, kann sich berechtigte Hoffnungen auf (s)eine Zukunft machen - und die Pop-Musik darf das für sich auch.
Wenn schon Berichterstattung im herkömmlichen Sinn nichts bringt, so lassen sich wenigstens ein paar Stimmungsbilder ausmachen. So spielen heute so viele Frauen wie noch nie in der Geschichte der populären Musik eine markante Rolle. Ein Beispiel: Im "Mojo Club" fuhr die britische Songwriterin Nadine Shah - offenbar selbst etwas überrascht - endlich einmal die Anerkennung ein, die ihr längst zusteht. Ihr politischer, jazzig-soulig angehauchter Pop, mit einer ausgebufften Band im Rücken, sorgte für Jubelstürme auf den zwei brechend vollen Etagen in diesem legendären Keller-Club. Auch SingerSongwriterinnen wie Megan Nash und EMA konnten beeindruckend punkten. Und die neuen, durchaus heftigen Punkbands mit schrillen, starken Frauen-Persönlichkeiten am Mikrofon, die allerorts umjubelt wurden, setzten ebenfalls Zeichen für einen Wandel. Exemplarisch seien Skinny Lister und Blood Command genannt. Dazu passt natürlich auch, dass der Band Friends of Gas aus München - eine der besten deutschsprachigen Truppen zurzeit - eine Sängerin vorsteht. Offenbar zeitigt auch das Entsenden neuer Deutschpop-Acts aufs Reeperbahn-Festival Ergebnisse. Die Majors Warner und Universal würden wohl sonst nicht ihre neuen heißen Eisen Klan und Faber ins Rennen schicken.
Brechend voll war es allenthalben. Obwohl die Macher dem sinnvoll entgegenzuwirken versuchten. Mit dem Festival-Village schufen sie auf dem Heilig-Geist-Feld am Ende der Reeperbahn eine zusätzliche Freiluft-Location inklusive einer weiteren Live-Bühne und des "Dome", einem riesigen mobilen Planetarium, in dem 360-Grad- und 3 D-Filme gezeigt wurden und Konzerte stattfanden. Selbst ein Musikfilm-Festival, gespickt mit Premieren, gehört seit diesem Jahr zum Programm. Dafür verlas übrigens kein Geringerer als Eurythmics-Kopf Dave Stewart die Keynote. Nicht zu vergessen, dass die Elbphilharmonie mit mehreren Konzerten erstmals ins Geschehen eingebunden wurde.
Man liest es heraus: Überbordende Fülle scheint sogar noch untertrieben. Und dabei sind bislang die unüberschaubaren, vielgestaltigen Vorträge noch nicht einmal erwähnt worden. Oder dass die neue Klassik ihre jungen und vielversprechenden Protagonisten ebenfalls in die Elbe-Stadt bringt und mit dem "Resonanzraum" sogar ihren eigenen Club besitzt.
40 000 Besucher haben das Festival erlebt - ein neuer Rekord. Der Erfolg wirft aber auch seine Schatten. Unübersehbar lange Schlangen von Menschen beim Versuch, vielleicht doch noch in die längst übervolle Halle des "Docks" zu gelangen, um einen Zacken von Überraschungsgast Liam Gallagher (Ex-Oasis) zu sehen. Oder der Blick des Beobachters auf flehentliches Bitten an die Türsteher-Riege, man möge einem noch Einlass gewähren, weil man schließlich der größte Fan von Beth Ditto (Ex-The Gossip) sei. Geschenkt, da wäre früheres Aufstehen wohl besser gewesen. Geduldige Anhänger sind meist schon bei der Band davor unterwegs, um definitiv noch mit reinzurutschen - und erlebten dabei vielleicht eine Überraschung. Weil der Act, den sie zum schnöden Überbrücken wählten, sie schier überwältigt. Ein Wunder wäre das nicht.
Noch geht das logistische Konzept der Veranstalter auf. Doch es werden jährlich mehr, die Ende September auf die Reeperbahn drängen, um einmal Erfahrungen der etwas anderen Art zu machen. Deutschlands bedeutendstes Festival für noch zu entdeckende populäre Musik hat Maßstäbe gesetzt.
Und bewiesen, dass es eine Gegenkultur gibt, die sich mit fastfood-artigem Hörbrei, wie er im Format-Radio zusammengekocht wird, längst nicht mehr abspeisen lässt.