Hamburg Die Gegenkultur macht sich breit

, Heike Kraske

Das bedeutendste Festival Deutschlands für die Zukunft von Pop-Musik findet alljährlich in Hamburg St. Pauli statt. Mehr Event ist nicht möglich. Mehr Andrang allerdings auch nicht.

 
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Hamburg - Mit der Erinnerung an den friesisch-herben Geschmack einer prominenten Biermarke setzt wieder das Kopfkino ein: Das Karussell aus Band- und Clubnamen, aus Bildern von Orten und Aktionen und aus Hörfetzen dreht sich ... schneller, immer schneller, rasend schnell. So muss sich ein chinesischer Tourist fühlen, der in vier Tagen ganz Europa herunterreißt. Und dabei spielt beim Reeperbahn-Festival nicht nur unser Kontinent eine Rolle, sondern die ganze Welt.

Meinungen

"Kunst ist dafür da, eine Gesellschaft aufzurütteln. Das ist unsere Aufgabe." Das stellte Herbert Grönemeyer in einer Diskussion über Musik und Haltung klar - und subsumierte damit nachdrücklich, warum einer der wichtigsten Themenstränge des zwölften Reeperbahn-Festivals die Frage nach politischer Verantwortung in der internationalen Musikszene darstellte. Ein Umstand, der nicht nur der Bundestagswahl geschuldet ist, sondern der grundsätzlichen Vertiefung aktueller gesellschaftspolitisch relevanter Themen innerhalb der internationalen Musik und Musikwirtschaft. Alexander Schulz, Direktor/Founder Reeperbahn-Festival: "Wir haben das qualitativ hochwertigste Reeperbahn-Festival erlebt - sowohl in Bezug auf die Konzerte, als auch auf das Film-, Kunst- und das Fachbesucherprogramm konnten wir ein noch nicht da gewesenes Niveau anbieten. Und damit meine ich nicht nur die nochmals gestiegenen Optionen, für alle Teilmärkte international Geschäft zu machen. Wir haben auch das gesellschaftspolitisch stärkste Reeperbahn-Festival erlebt. Das selbst gesteckte Ziel, bis 2022 die Gender-Lücke auf der eigenen Veranstaltung zu schließen, ist nur ein Beispiel dafür."

Die wichtigsten Festival-Preisträger

Der "Anchor 2017", der internationale Musikpreis des Reeperbahn-Festivals, bei dem acht Nominierte um die Auszeichnung zum vielversprechendsten Newcomer spielen, ging an die britische Songwriterin Jade Bird. Die Verleih-Jury bestand diesmal aus David-Bowie-Produzent Tony Visconti, Garbage-Sängerin Shirley Manson, Regisseurin Valeska Steiner und Sonja Glass von der Band BOY, Emily Haines von Metric und Broken Social Scene und BBC-Moderator Huw Stephens.

Der "Helga! Festival Award" ging unter anderem an die folgenden Gewinner:

Inspirierendste Festival-Idee: "A Summer's Tale"; Feinstes Booking: "Maifeld Derby"; Leidenschaftlichste Festival-Performance: Benjamine Clementine beim "Haldern Pop". Die "VIA! VUT Indie Awards"-Gewinner sind Nosoyo (bester Newcomer), Audiolith (bestes Label), "Die Höchste Eisenbahn" (bester Act) und Jan Böhmermann (bestes Experiment).

Mehr als 600 Konzerte von 420 Bands sowie ungezählte Vorträge, Filme und Workshops in rund 80 Clubs und Locations zu verfolgen - ein Ding der Unmöglichkeit: Selbst, wenn man sich zeitweise trennt, um so viel als möglich "abzuarbeiten" und dann miteinander abzugleichen. Für Jäger und Sammler ist das Paradies und Hölle zugleich. Um wenigstens ansatzweise zu ahnen, was heutzutage so alles abgeht, dazu sind die vier Festival-Tage (und Nächte) jedoch perfekt. Sie vermitteln eine Ahnung, wie viel großartige und immer noch unentdeckte Bands sich "da draußen" tummeln mögen.

Dabei spielt sich das Festival, abgesehen von ein paar Ausnahmen, in einer geografisch eng begrenzten Gegend ab: der knapp einen Kilometer langen Reeperbahn sowie ihrer Seitenstraßen - mit einem der dichtesten Musikclub-Netze des Erdballs. Die ganze Welt der populären Musik auf gerade mal einer "Sündenmeile". Doch wo anfangen, wo aufhören? Zumal unter den Unmengen von Bands echte Ausfälle nicht auszumachen waren, auch nicht in den kleinsten Hütten und selbst um die am wenigsten besuchte Mittagszeit. Die Veranstalter überlassen in Sachen Band-Auswahl halt nichts dem Zufall. Wer beim Reeperbahn-Festival auftritt, kann sich berechtigte Hoffnungen auf (s)eine Zukunft machen - und die Pop-Musik darf das für sich auch.

Wenn schon Berichterstattung im herkömmlichen Sinn nichts bringt, so lassen sich wenigstens ein paar Stimmungsbilder ausmachen. So spielen heute so viele Frauen wie noch nie in der Geschichte der populären Musik eine markante Rolle. Ein Beispiel: Im "Mojo Club" fuhr die britische Songwriterin Nadine Shah - offenbar selbst etwas überrascht - endlich einmal die Anerkennung ein, die ihr längst zusteht. Ihr politischer, jazzig-soulig angehauchter Pop, mit einer ausgebufften Band im Rücken, sorgte für Jubelstürme auf den zwei brechend vollen Etagen in diesem legendären Keller-Club. Auch SingerSongwriterinnen wie Megan Nash und EMA konnten beeindruckend punkten. Und die neuen, durchaus heftigen Punkbands mit schrillen, starken Frauen-Persönlichkeiten am Mikrofon, die allerorts umjubelt wurden, setzten ebenfalls Zeichen für einen Wandel. Exemplarisch seien Skinny Lister und Blood Command genannt. Dazu passt natürlich auch, dass der Band Friends of Gas aus München - eine der besten deutschsprachigen Truppen zurzeit - eine Sängerin vorsteht. Offenbar zeitigt auch das Entsenden neuer Deutschpop-Acts aufs Reeperbahn-Festival Ergebnisse. Die Majors Warner und Universal würden wohl sonst nicht ihre neuen heißen Eisen Klan und Faber ins Rennen schicken.

Brechend voll war es allenthalben. Obwohl die Macher dem sinnvoll entgegenzuwirken versuchten. Mit dem Festival-Village schufen sie auf dem Heilig-Geist-Feld am Ende der Reeperbahn eine zusätzliche Freiluft-Location inklusive einer weiteren Live-Bühne und des "Dome", einem riesigen mobilen Planetarium, in dem 360-Grad- und 3 D-Filme gezeigt wurden und Konzerte stattfanden. Selbst ein Musikfilm-Festival, gespickt mit Premieren, gehört seit diesem Jahr zum Programm. Dafür verlas übrigens kein Geringerer als Eurythmics-Kopf Dave Stewart die Keynote. Nicht zu vergessen, dass die Elbphilharmonie mit mehreren Konzerten erstmals ins Geschehen eingebunden wurde.

Man liest es heraus: Überbordende Fülle scheint sogar noch untertrieben. Und dabei sind bislang die unüberschaubaren, vielgestaltigen Vorträge noch nicht einmal erwähnt worden. Oder dass die neue Klassik ihre jungen und vielversprechenden Protagonisten ebenfalls in die Elbe-Stadt bringt und mit dem "Resonanzraum" sogar ihren eigenen Club besitzt.

40 000 Besucher haben das Festival erlebt - ein neuer Rekord. Der Erfolg wirft aber auch seine Schatten. Unübersehbar lange Schlangen von Menschen beim Versuch, vielleicht doch noch in die längst übervolle Halle des "Docks" zu gelangen, um einen Zacken von Überraschungsgast Liam Gallagher (Ex-Oasis) zu sehen. Oder der Blick des Beobachters auf flehentliches Bitten an die Türsteher-Riege, man möge einem noch Einlass gewähren, weil man schließlich der größte Fan von Beth Ditto (Ex-The Gossip) sei. Geschenkt, da wäre früheres Aufstehen wohl besser gewesen. Geduldige Anhänger sind meist schon bei der Band davor unterwegs, um definitiv noch mit reinzurutschen - und erlebten dabei vielleicht eine Überraschung. Weil der Act, den sie zum schnöden Überbrücken wählten, sie schier überwältigt. Ein Wunder wäre das nicht.

Noch geht das logistische Konzept der Veranstalter auf. Doch es werden jährlich mehr, die Ende September auf die Reeperbahn drängen, um einmal Erfahrungen der etwas anderen Art zu machen. Deutschlands bedeutendstes Festival für noch zu entdeckende populäre Musik hat Maßstäbe gesetzt.

Und bewiesen, dass es eine Gegenkultur gibt, die sich mit fastfood-artigem Hörbrei, wie er im Format-Radio zusammengekocht wird, längst nicht mehr abspeisen lässt.

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