Hilfe für Nachbarn Eine Tat, die alles kaputt macht

Die jugendlichen Täter haben Gerhard K. derart zugerichtet, dass er heute arbeitsunfähig ist. Symbol-Foto: Foto: picture alliance / dpa/Karl-Josef Hildenbrand

Drei Jugendliche greifen am Kulmbacher Bahnhof einen Schlafenden an. Er hat nichts getan, konnte sich nicht wehren und leidet bis heute an den Folgen des brutalen Raubüberfalls.

 
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Schädelbruch, Sprengung der Schädelnaht, Nasenbeintrümmerfraktur, Blutergüsse zwischen Hirnhäuten. Und dann dieser Satz: „Die Tritte wurden derart massiv geführt, dass sich das Muster der Schuhsohle an mehreren Stellen im Gesicht durch Einblutungen abzeichnete.“

Auf dem runden Wohnzimmertisch vor Gerhard K. (Name geändert) liegt ein Bündel Papier, ordentlich geklammert – Post vom Landgericht Bayreuth. Die Zeilen beschreiben im Detail, was ihm widerfahren ist, was sein Leben komplett verändert hat. Das Wort „zerstört“ möchte Gerhard K. nicht benutzen. Zerstören will er sich nicht lassen, das hat er für sich beschlossen. Seine Lebensgefährtin spricht es dennoch aus: „Die Schweine haben alles kaputt gemacht.“

Es ist der 12. September 2021. Gerhard K., der im Raum Hof lebt, aber aus dem Kulmbacher Raum stammt, hat seine Mutter zu Besuch. Weil er kein Auto besitzt, begleitet er sie am Abend auf ihrer Zugfahrt zurück nach Kulmbach, wo sie im Seniorenheim wohnt. Auf den Zug zurück muss er über eine Stunde warten. Der damals 58-Jährige legt sich am Bahnhof auf eine Bank und schläft ein.

Er erwacht auf der Intensivstation – Not-OP und Koma liegen hinter ihm. Ein Beamter der Kripo steht an seinem Bett und erklärt, was am Bahnhof passiert ist. „Gehört habe ich ihn zwar, aber was er sagte, kam nicht an, ich war sprachlos“, erzählt K. heute.

Perspektiv-Wechsel: Während Gerhard K. auf der Bank schläft, treffen sich nach Mitternacht drei Jugendliche am Bahnhof Kulmbach. Einer von ihnen hat kurz zuvor in der Stadt eine Frau attackiert, sie zu Boden geschleudert, sodass sie später operiert werden musste. Dieser 16-Jährige schlägt nun den Freunden vor, den Fremden, den sie auf der Bank liegen sehen, „abzuziehen“. Laut Gerichtsakte erkennen alle drei noch vor dem ersten Schlag, dass K. ein schmächtiger, älterer Mann ist. Einer legt ihm den Arm um den Hals und fixiert ihn, der Anstifter trifft ihn mit der Faust ins Gesicht. Auf Schläge folgen Tritte. Stampftritte. Kicktritte. Sie drücken die Nase von Gerhard K. ein. Als die Jugendlichen von ihm ablassen, liegt er blutend am Boden. Sie durchwühlen Hosentaschen und Rucksack, nehmen 60 Euro an sich – lassen den reglosen Mann liegen. In der Akte heißt es weiter: „Anschließend begaben sie sich in der Oberen Stadt in eine Bar, wo sie feierten und sich vom erbeuteten Geld mehrere Shots Alkohol kauften.“

Gerhard K. kennt die Sätze genau, erinnern kann er sich an gar nichts. Die Folgen werden ihn ein Leben lang beeinträchtigen, sagen die Ärzte. Sein Sehvermögen ist massiv eingeschränkt, er sieht Doppelbilder und kann selbst am Tag Bordsteine oder Stufen nicht erkennen. Seinen Geruchs- und Geschmackssinn hat er verloren. Weitere Strecken zu Fuß kann er nicht laufen. Bis heute ist er krankgeschrieben. „Sein Leben hing am seidenen Faden“, sagt seine Partnerin. Die Frage nach dem Warum dieser Tat verfolgt sie. „Niemandem hat er je etwas getan.“

Was beide zudem schwer belastet: Gerhard K. hat durch den Vorfall seine Arbeit als Maschinenführer verloren, die ihm viel bedeutete. Dort entließ man ihn in der Probezeit, die Kündigung bekam er noch während seines Krankenhaus-Aufenthalts. Wegen der körperlichen Beeinträchtigungen wird der 60-Jährige nun Frührente beantragen müssen, obwohl er gerne weiter arbeiten würde. Nun muss er mit wesentlich weniger Geld auskommen und hat Schulden angehäuft, weil die Krankenkasse nicht alle Leistungen für seine Behandlung in Krankenhaus und Reha-Klinik bezahlte. Er beziffert sie auf 1500 Euro. Er möchte versuchen, Opferhilfe über den Weißen Ring zu beantragen, aktuell fehlt ihm sogar das Geld für Winterkleidung. Dazu kommt, dass er durch seine Arbeit die Chance sah, in eine andere Wohnung umzuziehen. Die jetzige ist sanierungsbedürftig, die Heizung veraltet. „Als Arbeitnehmer findet man etwas, aber wenn die Vermieter Hartz IV hören, wimmeln sie dich ab.“

Zurück zu den Tätern: Die Polizei hat alle gefasst, den Anstifter traf sie am Morgen trinkend und feiernd in Kulmbach an. In der Gerichtsakte steht, dass man den Geschädigten durch Zufall zeitnah am Bahnhof liegend fand. Gerhard K. berichtet, dass es ein Mitarbeiter der Bahn gewesen sei, der ihn rettete. Die Jugendlichen hat er bei der Verhandlung zum ersten Mal gesehen. Entschuldigt haben sie sich nicht – nicht direkt zumindest. „Ihre Anwälte haben sie wohl überredet, ein paar Zeilen aufzusetzen.“ Den hingeschmierten Text voller Rechtschreibfehler habe er als Hohn empfunden, die Jugendstrafen von einmal sechs und zweimal drei Jahren Haft als viel zu milde. Er befürchtet, dass sie vorzeitig auf Bewährung rauskommen. „Das ist erschreckend und traurig.“

Wird er ihnen je vergeben können? „Nein.“ Da überlegt er keine Sekunde. Es ist das erste Mal, dass seine Stimme derart hart klingt. Verbittert wirkt Gerhard K. nicht. Als das Urteil fiel, habe er für sich beschlossen, dass die Tat fortan keinen Raum mehr in seinem Leben einnehmen darf. Nicht mehr, als sie zwangsläufig durch ihre Folgen beansprucht. Seine Mutter hat er seit dem Vorfall kein einziges Mal mehr im Kulmbacher Altenheim besuchen können. Würde er es tun, müsste er am Tatort aussteigen.

Aufruf

Wenn Sie, liebe Leserinnen und Leser, Gerhard K. helfen wollen, überweisen Sie Ihre Spende auf das Konto von „Hilfe für Nachbarn“ bei der Sparkasse. Die Spenden sind absetzbar. Für Beträge von mehr als 300 Euro gibt es eine Spendenquittung (Adresse vermerken). Für kleinere Beträge reicht der Kontoauszug zur Vorlage beim Finanzamt. Online-Banking-Kunden können über den Girocode spenden.

IBAN DE 29 7805 0000 0220 0204 16

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