Hof - „Meine Tochter lebt.“ Sie sagt es immer wieder – lächelnd, schluchzend, kraftvoll. Sie sagt es nicht nur im Gespräch mit unserer Zeitung. Der Satz trägt sie.
Eine Frau aus dem Landkreis Hof geht nach dem Unfall ihrer Tochter durch die Hölle. Nun holt sie ihr Kind Schritt für Schritt zurück ins Leben. Für einen Wunsch fehlt der Alleinerziehenden das Geld.
Hof - „Meine Tochter lebt.“ Sie sagt es immer wieder – lächelnd, schluchzend, kraftvoll. Sie sagt es nicht nur im Gespräch mit unserer Zeitung. Der Satz trägt sie.
Ihr Leben war schön, alles lief so, wie es sich Eltern für ihr Kind wünschen: Die Tochter gerade volljährig, glücklich in ihrer Ausbildung, die theoretische Führerscheinprüfung fehlerfrei bestanden. Die Endvierzigerin Maria S. (alle Namen geändert) sieht ihre Tochter auf einem guten Weg in ein eigenes Leben.
Ein Tag im Oktober 2020 ändert alles. Die 18-jährige Lisa kommt weinend aus der Arbeit heim und erzählt, dass sie mit dem Motorroller gestürzt sei. Sie habe auf der Straße gelegen, mitten auf einer Kreuzung – niemand habe angehalten, um ihr zu helfen. „Sie hat es geschafft, den Roller aufzurichten und ist die neun Kilometer nach Hause gefahren“, erzählt ihre Mutter. Weil Lisa daheim ständig erbricht, bringt sie Maria S. zum Arzt. Sie vermutet eine Gehirnerschütterung.
Lisa kommt ins Krankenhaus. Es ist der Beginn eines Albtraums. „Ich bin durch die Hölle gegangen“, sagt Maria S. heute. Lisas Gehirn ist stark geschwollen, sie muss sogar reanimiert werden, die Ärzte öffnen den Schädel, operieren die junge Frau sieben Stunden lang und versetzen sie ins künstliche Koma. Das Gehirn will dennoch nicht abschwellen. „Nach der Operation haben sie mir gesagt, dass sie lebt, sie aber nicht wissen, ob sie überlebt.“ Die Prognose sei schlecht.
Dass etwas zurückbleiben wird, prophezeien die Ärzte der Mutter relativ bald. Die junge Frau werde behindert sein, heißt es. Ob geistig, körperlich oder beides, kann niemand sagen. „Mein größter Wunsch war nur, dass sie lebt!“
Nach zehn Tagen wollen die Ärzte die Patientin aufwachen lassen. Maria S. bringt Lieblingsmusik mit ans Krankenbett, und Lisa wird tatsächlich wach. Doch als sie selbst atmen soll, schafft sie es nicht. Ein Todeskampf. Die Mutter muss mit ansehen, wie ihre Tochter nach Luft ringt. „Diese Bilder bekomme ich nicht aus dem Kopf, das war das Schlimmste überhaupt.“
Die Ärzte legen sie wieder schlafen, beatmen sie erneut. Einer von ihnen sagt den Satz, der in Maria S. bis heute nachhallt: „Sie wird nie wieder atmen können.“ Doch ein anderer Mediziner teilt diese Einschätzung nicht, zwei Wochen später versuchen sie es erneut. Maria S., die sich als sehr gläubig beschreibt, betet unentwegt in dieser Zeit. Nach 24 Stunden dann die Gewissheit: Ihre Tochter atmet, erkennt sie und sagt „Mama“. „Das war noch viel schöner als beim ersten Mal, als sie klein war.“
Der Horror ist damit nicht überstanden, vom Hals ab gelähmt liegt Lisa im Krankenbett. Aber geistig ist sie voll da. Es folgen weitere Komplikationen, sie braucht mehrere Operationen, eine Magensonde und auch einen so genannten Shunt, damit Gehirnflüssigkeit abfließen kann. Er bereitet ihr noch heute Probleme. „Nach dieser Operation konnte sie einfach nicht mehr, sie wollte sterben.“ Aber ihre Mutter ist stark. Stark für zwei. „Wer mich kennt, der weiß, was ich mir in den Kopf setze, schaffe ich auch“, sagt die zierliche Frau.
Seit Juni ist Lisa wieder zu Hause. Ihre Mutter, die selbst in der Pflege tätig ist, kümmert sich rund um die Uhr um sie. Anfangs half sie ihr beim Essen, jetzt üben sie täglich laufen. Mittlerweile bewegt sich Lisa selbstständig mit dem Rollator oder einem Stock. Die rechte Hand ist verkrampft, sie kann sie nicht richtig öffnen, deshalb hat sie sich zum Linkshänder umtrainiert. Ihre Mutter sieht Fortschritte. „Für eine 19-Jährige geht es ihr beschissen, aber für ihr Krankheitsbild gut.“
Denn der Unfall mit dem Motorroller hat ans Licht gebracht, dass Lisa an ADEM leidet, einer entzündlichen Erkrankung der Nerven in Gehirn und Rückenmark. Die Krankheit verursacht Schübe, vergleichbar mit Multipler Sklerose. Maria S. sieht es heute als göttliche Fügung an, dass die Ärzte dies durch den Unfall entdeckten und ihre Tochter in einer Klinik lag, als sie kurzzeitig tot war.
Dass sie es war, hat Maria S. erst hinterher erfahren, aber sehr wohl gespürt – wie sie unter Tränen erzählt. Lisas Überleben verleiht beiden Tag um Tag Motivation. „Durchhänger gibt es, aber grundsätzlich ist meine Tochter psychisch stabil.“
Nun würde Maria S. ihr gerne einen großen Wunsch erfüllen: Den Führerschein. Da sich der Unfall kurz vor der praktischen Prüfung ereignete, muss sie die Fahrschule von vorne beginnen. Die Alleinerziehende, die zurzeit wegen der Betreuung nicht arbeitet, kann das Geld dafür kein zweites Mal aufbringen. Da ihre Eltern nicht mehr leben, ist sie mit ihrer Tochter auf sich allein gestellt.
Maria S. rechnet damit, dass sie mindestens noch ein halbes Jahr intensiv für ihre Tochter da sein muss. Fortschritte stimmen sie zuversichtlich. Im Frühjahr könnte Lisa eventuell mit der Fahrschule beginnen. Ein eigenes Auto hat sie der Tochter zwar schon gekauft, seit dem Unfall steht es abgemeldet vor der Garage – benutzen könnte sie es ohnehin nicht. Sie bräuchte ein umgebautes, behindertengerechtes Fahrzeug. Auch dafür fehlt das Geld. Dabei wäre die Aussicht auf ein Stück Freiheit und Normalität ein wichtiger Anreiz für die junge Frau.
Vergangene Woche erreichte sie ein Brief mit der Nachricht, dass ihr Antrag auf Reha abgelehnt wird. Begründung: Sie werde keinen Beruf ausüben können. Ein Tiefschlag – den Maria S. nicht akzeptiert. Sie will es erneut versuchen, kämpft weiter und motiviert Lisa zu laufen. Am Ende des Gesprächs sagt sie mit fester Stimme: „Als der Brief kam, hat meine Tochter gesagt: Die haben mich aufgegeben. Da habe ich geantwortet: Aber ich dich nicht.“