Luisenburg traut sich tuntigen Transfer Frecher Faust in Wunsiedel

, aktualisiert am 11.07.2021 - 18:00 Uhr

Goethes­ 200 Jahre alter Klassiker über die zwei Seelen in Faustens Brust gerät in Wunsiedel zum schlüpfrigen Höllenspektakel. Die Tragödie um das Streben nach sinnhafter wie sinnlicher Vollendung verträgt diese ­ Verstärkung derber Shakespearscher Züge. Stimmig wirken sogar die akrobatischen Showeinlagen­ und die Gegenwarts-Grüße von Punk bis Aluhut. 

 
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Wunsiedel - Von diesen wilden Wesen könnten Schülergenerationen genesen: Statt Jugendlichen staubige gelbe Reclam-Hefte ins Hirn zu hämmern, sollten Pädagogen ihnen den furiosen Felsenbühnen-Faust feilbieten, der am Freitag auf der Wunsiedler Luisenburg Premiere feierte.

Irrsinnige Sinnsuch-Show

Regisseur Christoph Biermeier kitzelt aus dem Klassiker das derbe Drama drunter heraus. Zu sehen ist ein stimmiges Shakespeare-Spektakel, in dem es zwischen grellen Drag-Queens, provokanten Punks und polternder Pop-Musik wenig gibt, was es nicht gibt. Es blitzt, donnert, rockt, kracht, hallt und schallt auf der riesigen Freilichtbühne, die bis zum obersten Felsen hinauf bedrohlich blutrot strahlt. Effektstarke Bühnenbilder und bizarre Kostüme (Jose Luna) verstärken den Irrsinn dieser Sinnsuch-Show. Ein diverses Rollenspiel mit androgynen Gestalten sexualisiert den im Klassiker angelegten Kampf zwischen Gut und Böse, zwischen Seele und Geist. Klug parallelisiert: Auf der Felsenbühne bleiben nicht nur Goethes große Fragen offen, sondern sogar die nach geschlechtlichen Zuordnung. Ob Männlein oder Weiblein – das interessiert hier keinen großen Geist.

Mephistoteles – mal Mann, mal Frau

Nicht einmal bei der stärksten Rolle im Stück: Eine Frau – Viola von der Burg – spielt auf der Luisenburg einen meist männlichen Mephistopheles in Glitzer-Hotpants, Netzstrümpfen und Frack, der aber auch als Feme fatale im knallroten Abendkleid eine gute Show hinlegt. Zum Beispiel, wenn dieser Teufel „Ich bin der Geist, der stets vermeint“ im Nina-Hagen-Duktus deklariert. Dieser illusionslose Zyniker ist ein frivoler Strippenzieher, der verachtet statt begehrt, was er an seiner imaginären Angel zappeln lässt. Schon in Pudel-Gestalt will er nur spielen. Diesen Hund, der „Faust“ statt „Wuff“ bellt, gibt es in Wunsiedel gleich in vierfacher akrobatischer Ausfertigung.

Vierfacher Pudel in akrobatischer Ausfertigung

Mephistopheles teuflische Entourage fantastischer Fabelwesen findet Sinnlichkeit ebenfallsweit wichtiger als Sinn. Inhalt? Überschätzt! Optik bedeutet der hohlen Bagage alles.

Mutige Streichung auf zwei Stunden

Mutige Streichungen begrenzen das Theater auf vergnügliche zwei Stunden: Im „Prolog im Himmel“ fehlen nicht nur die himmlischen Heerscharen und drei Erzengel – sogar Gott ist weg: Denn den Dialog zwischen dem Herrn und Mephistopheles schafft von der Burgs Teufel auch allein: Er spricht einfach beide Rollen. Ganz raus fliegt Goethes „Vorspiel auf dem Theater“. Braucht’s nicht, weil die Wunsiedler Macher ohnehin machen, was dieser Direktor im Original-Text erklärt: „Ihr wisst, auf unseren deutschen Bühnen probiert ein jeder, was er mag.“

Vom Wissenschafts-Wahn ins süße Leben

Als Frankenstein-Verschnitt spielt Christian Sengewald den Faust. Statt eines staubigen Bücherwurms rauscht ein Irrer mit wallendem Haar und mächtigem Mantel über die Bühne. Einer, der aus dem Wissenschafts-Wahn in den Sog des süßen Lebens flieht, um erkennen zu müssen, dass das eine so seltsam wie das andere schmecken kann.

Faust am Rockzipfel des Teufels

Damit er als Gretchen-Verführer punktet, verleiht der Teufel dem liebestrunkenen Faust eine jugendlichere Anmutung. Das graue Wallehaar weicht einem langen schwarzen Stufenschnitt. Der üppige Frankenstein-Mantel fällt, was die braune, strassbesetzte Rockstar-Hose zur Geltung bringt. Ein Anatomie-Shirt kehrt das Faustsche Innenleben nach außen, ein glitzerndes Herz darauf weist den Weg, den dieser Jüngling fortan gehen will. Sichtbar macht dieser Sengewaldsche Faust aber noch viel mehr: zum Beispiel, wie schnell sich dieser forsche Forscher, sobald er sich aus seinem Irrsinns-Labor wagt, in einen verängstigten Spießer verwandelt, der vor der wahren Welt hinter des Teufels Rockzipfel Schutz sucht.

Die Symbolik der Kostüme

Und das herzallerliebste Gretchen, Goethes Inbegriff naiver Unschuld? Janina Raspe – etwas älter als süße 14 Jahre, wie in der klassischen Vorgabe – macht eine lebensfrohe Rennsemmel aus dem fallenden Mädchen. Sie agiert bei der Premiere am Freitag schwindelerregend schnell auf der regennassen Holzbühne. Bei allem Tempo akzentuiert die Schauspielerin dennoch deutlich die Wahnsinns-Wandlung von der braven Tochter zur schuldigen Sünderin. Selbst die Kostüme versinnbildlichen den tiefen Fall der Lebens- und Liebeshungrigen. Aus dem knalligen Plastik-Rotkäppchen wird eine Schönheit im Reifrock – ohne Brautkleid drüber, super Symbolik. Im Todeskerker bleibt der Verurteilten dann nur ein zerrissenes Büßerhemd. Ihre einst so holden Locken hängen nass und wirr, als das Gretchen im Irrsinn versinkt, ohne ihre Gewissensbisse in Raserei ersticken zu können.

Pferdefuß-Wesen auf Stelzen

Doch den Wahnsinn hat die junge Dame in diesem Drama nicht einmal optisch für sich allein gepachtet. Goethes Geister gerieren sich auf der Luisenburg als blutüberströmte Zwitterwesen mit offenen Gehirnschalen und giftgrünen Krallen. In ähnlicher Anmutung kommt Faust-Schüler Wagner (Paul Kaiser) dahergestolpert: Ein buckeliges Männlein mit giftgrünem Umhang um Kopf und Schultern. Fünf Punker mit Gemächten in blutgeäderten Tangas und clownesken Säufernasen rocken in Auerbachs Keller das Lied von der Ratte runter.

In der Wunsiedler Hexenküche brauen keine „zarten Tiere“ giftige Säfte: Da feiern furiose Fabelwesen unter der Fuchtel der riesenbrüstigen Hexe (Matthias Zeeb) infernalische Orgien. Aus der Szene „Vor dem Tore“ wird in Wunsiedel eine (Corona?-)Demo mit sächsisch sprechender Aluhut-Trägerin und „So nicht“-Schildern. Selbst Akrobatik bereichert diese Irrsinns-Inszenierung: Auf schwindelnd hohen Stelzen stolziert ein Wesen mit teuflischen Pferdefüßen. Saltospringer katapultieren sich auf einer Riesenwippe auf und nieder und zwei Jongleuren fällt von ihren Messern bis hin zu ihren Fackeln rein gar nix runter.

Schon Goethe provoziert

Faust im frechen Pop-Art-Style auf der altehrwürdigen Luisenburg zu präsentieren, ist freilich ein Wagnis: Doch erstens steckt die Provokation schon in Großmeister Goethes gut 200 Jahre altem Drama. Zweitens bekommt der berühmtesten deutschen Tragödie der tuntige Transfer ins 21. Jahrhundert, ohne dass die große Grundfrage nach dem Sinn alles menschlichen Seins verloren geht.

Und drittens? Haben die Zuschauer diesen zirkusreifen Theaterabend schrillbunten Gepräges auf der Wunsiedler Felsenbühne sichtlich genossen.

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