Vom Wissenschafts-Wahn ins süße Leben
Als Frankenstein-Verschnitt spielt Christian Sengewald den Faust. Statt eines staubigen Bücherwurms rauscht ein Irrer mit wallendem Haar und mächtigem Mantel über die Bühne. Einer, der aus dem Wissenschafts-Wahn in den Sog des süßen Lebens flieht, um erkennen zu müssen, dass das eine so seltsam wie das andere schmecken kann.
Faust am Rockzipfel des Teufels
Damit er als Gretchen-Verführer punktet, verleiht der Teufel dem liebestrunkenen Faust eine jugendlichere Anmutung. Das graue Wallehaar weicht einem langen schwarzen Stufenschnitt. Der üppige Frankenstein-Mantel fällt, was die braune, strassbesetzte Rockstar-Hose zur Geltung bringt. Ein Anatomie-Shirt kehrt das Faustsche Innenleben nach außen, ein glitzerndes Herz darauf weist den Weg, den dieser Jüngling fortan gehen will. Sichtbar macht dieser Sengewaldsche Faust aber noch viel mehr: zum Beispiel, wie schnell sich dieser forsche Forscher, sobald er sich aus seinem Irrsinns-Labor wagt, in einen verängstigten Spießer verwandelt, der vor der wahren Welt hinter des Teufels Rockzipfel Schutz sucht.
Die Symbolik der Kostüme
Und das herzallerliebste Gretchen, Goethes Inbegriff naiver Unschuld? Janina Raspe – etwas älter als süße 14 Jahre, wie in der klassischen Vorgabe – macht eine lebensfrohe Rennsemmel aus dem fallenden Mädchen. Sie agiert bei der Premiere am Freitag schwindelerregend schnell auf der regennassen Holzbühne. Bei allem Tempo akzentuiert die Schauspielerin dennoch deutlich die Wahnsinns-Wandlung von der braven Tochter zur schuldigen Sünderin. Selbst die Kostüme versinnbildlichen den tiefen Fall der Lebens- und Liebeshungrigen. Aus dem knalligen Plastik-Rotkäppchen wird eine Schönheit im Reifrock – ohne Brautkleid drüber, super Symbolik. Im Todeskerker bleibt der Verurteilten dann nur ein zerrissenes Büßerhemd. Ihre einst so holden Locken hängen nass und wirr, als das Gretchen im Irrsinn versinkt, ohne ihre Gewissensbisse in Raserei ersticken zu können.
Pferdefuß-Wesen auf Stelzen
Doch den Wahnsinn hat die junge Dame in diesem Drama nicht einmal optisch für sich allein gepachtet. Goethes Geister gerieren sich auf der Luisenburg als blutüberströmte Zwitterwesen mit offenen Gehirnschalen und giftgrünen Krallen. In ähnlicher Anmutung kommt Faust-Schüler Wagner (Paul Kaiser) dahergestolpert: Ein buckeliges Männlein mit giftgrünem Umhang um Kopf und Schultern. Fünf Punker mit Gemächten in blutgeäderten Tangas und clownesken Säufernasen rocken in Auerbachs Keller das Lied von der Ratte runter.
In der Wunsiedler Hexenküche brauen keine „zarten Tiere“ giftige Säfte: Da feiern furiose Fabelwesen unter der Fuchtel der riesenbrüstigen Hexe (Matthias Zeeb) infernalische Orgien. Aus der Szene „Vor dem Tore“ wird in Wunsiedel eine (Corona?-)Demo mit sächsisch sprechender Aluhut-Trägerin und „So nicht“-Schildern. Selbst Akrobatik bereichert diese Irrsinns-Inszenierung: Auf schwindelnd hohen Stelzen stolziert ein Wesen mit teuflischen Pferdefüßen. Saltospringer katapultieren sich auf einer Riesenwippe auf und nieder und zwei Jongleuren fällt von ihren Messern bis hin zu ihren Fackeln rein gar nix runter.
Schon Goethe provoziert
Faust im frechen Pop-Art-Style auf der altehrwürdigen Luisenburg zu präsentieren, ist freilich ein Wagnis: Doch erstens steckt die Provokation schon in Großmeister Goethes gut 200 Jahre altem Drama. Zweitens bekommt der berühmtesten deutschen Tragödie der tuntige Transfer ins 21. Jahrhundert, ohne dass die große Grundfrage nach dem Sinn alles menschlichen Seins verloren geht.
Und drittens? Haben die Zuschauer diesen zirkusreifen Theaterabend schrillbunten Gepräges auf der Wunsiedler Felsenbühne sichtlich genossen.