So oder so: Um noch effizienter zur Vermeidung einer dritten Infektionskette beitragen zu können, braucht die App noch mehr Nutzer. Denn der Wirkungsgrad hängt maßgeblich von den Anwenderzahlen ab. Nur wenn Nutzer der App bei ihren Aktivität auf andere App-Anwender treffen, kann das Tracing funktionieren.
Henning Tillmann, Informatiker und Co-Vorsitzender des Digital-Thinktanks D64, beklagt verpasste Chancen, mit denen man die App noch populärer hätte machen können: "Im vergangenen Sommer war die App weltweit der Spitzenreiter, doch dann wurde vergessen, sie weiterzuentwickeln", sagte Tillmann Anfang Februar auf einem Kongress der Europäischen Akademie für Informationsfreiheit und Datenschutz (EAID). So sei das Führen eines Kontaktdatenbuches, das der Virologe Christian Drosten bereits im August vorgeschlagen habe, erst im Januar ermöglicht und in der App umgesetzt worden.
Immerhin habe das RKI die richtige Grundsatz-Entscheidung getroffen, nämlich auf die technischen Schnittstellen von Apple und Google zu setzen. Tillmann verweist darauf, dass Frankreich und Australien mittlerweile den Versuch aufgegeben, ohne die Hilfe der großen Silicon-Valley-Konzerne klar zu kommen. Die dort entwickelten Apps mit eigenen Schnittstellen haben nicht funktioniert und sind gefloppt.
Dass die deutsche App technisch funktioniert, wird inzwischen kaum mehr angezweifelt, auch wenn sich etliche Anwender gewundert haben, dass die App in den vergangenen Wochen kaum noch Risikobegegnungen angezeigt hat. Die Verringerung der Zahl der ungefährlichen Risikobegegnungen war aber nicht auf einen Defekt zurückzuführen, sondern einer neuen Zählmethode. Mit der Version 1.9, die Mitte Dezember veröffentlicht wurde, konnte präziser gesteuert werden, welche Begegnungen gezählt werden sollen und welche irrelevant waren.
Auch wenn die meisten App-User das noch nicht selbst erlebt haben: Bei wirklich gefährlichen Begegnungen schlägt sie an. Und sie gibt die Warnungen zuverlässig weiter. Über die App haben bislang über 240 000 Personen, die selbst positiv auf das Coronavirus getestet wurden, ihre Mitmenschen gewarnt. Bei einem geschätzten Durchschnittswert von fünf Begegnungen mit anderen App-Nutzern dürften damit über eine Million Warnhinweise ausgelöst worden sein.
Wie wirksam Corona-Warn-Apps sein können, zeigen auch aktuelle Zahlen aus Großbritannien. Alleine in England und Wales seien mit einer der deutschen App vergleichbaren Anwendung rund 600.000 Infektionen verhindert worden, teilte das britische Gesundheitsministerium mit. Die britische App verzeichnet bislang rund 21,6 Millionen Downloads.
Die Zahl der Warnungen in Deutschland - und damit die Wirksamkeit der App - könnte allerdings noch viel höher sein, wann tatsächlich alle Nutzer, die ein positives Testergebnis erhalten haben, dies auch in die App eintragen und damit die vorgesehene Alarmkette auslösen würden. Von den 391.000 positiven Testergebnissen, die seit September über einen QR-Code oder einer TeleTAN aus dem Callcenter der Telekom verifiziert wurden, lösten nur 59 Prozent den Warn-Mechanismus aus. 41 Prozent der betroffenen Nutzerinnen und Nutzer haben sich dagegen entschieden, ihr positives Testergebnis mit den anderen Nutzerinnen und Nutzern zu teilen.
An der Freiwilligkeit wollen die Verantwortlichen trotz dieser enttäuschenden Quote nichts ändern. Künftig soll aber eine Erinnerungsfunktion nachhaken, ob die Warnmeldung in der Stresssituation einer positiven Corona-Diagnose nicht einfach nur vergessen wurde.
Informatiker Tillmann, der sein Konzept zusammen mit dem SPD-Gesundheitsexperten Karl Lauterbach erarbeitet hat, äußert noch einen weiteren dringenden Erweiterungswunsch: Die Corona-Warn-App sollte unabhängig vom Aufspüren potenziell gefährlicher Einzelbegegnungen in der Lage sein, Clusterbildungen - beispielsweise in einem Restaurant - zu erkennen. Massenansammlungen von Menschen könnten wegen der Aerosoleausschüttung auch dann gefährlich sein, wenn die 1:1-Kontakte relativ weit auseinander stattfinden.
Zum einen könnte die App so erweitert werden, dass die Anwender sich bei einem Event oder einem Restaurantbesuch selbst einchecken können. Mit einer moderaten Änderung der Schnittstellen von Google und Apple könnte dies auch automatisch passieren. "Wenn es an diesem Ort dann eine Infektion gab, würden hier anonym die Menschen gewarnt."
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