Immer wieder wird über angebliche kirchliche Wunder wie Blutstropfen weinende Madonnen berichtet. Ob es sich wirklich um übernatürliche Phänomene handelt, bleibt unklar. Der Vatikan reformiert nun seine Richtlinien zu deren Bewertung.
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Dies geht aus einem von Papst Franziskus unterzeichneten Dokument hervor, das der Vatikan am Freitag (17. Mai) veröffentlicht hat. Neben neuen Kategorien für die Bewertung soll das vatikanische Amt für die Glaubenslehre in Rom das letzte Wort bei der endgültigen Entscheidung über übernatürliche Phänomene haben.
Angesichts einer Zunahme von falschen Gerüchten und der Verbreitung von Fake News im Internet seien die derzeitigen Richtlinien aus dem Jahr 1978 nicht mehr sinnvoll und praktikabel, begründet das Glaubensdikasterium seine Entscheidung, die Normen grundlegend zu überarbeiten.
Außerdem bestehe die Gefahr, dass Betrüger mit angeblichen Wundern oder sonstigen Phänomenen versuchen, Geld zu machen und Menschen zu manipulieren. Diese Risiken sollen mit den neuen Normen des Vatikans verhindert werden.
Bestand vorher die Möglichkeit, zu bewerten, dass ein Wunder vorliegt oder eben nicht, soll es nun sechs differenzierte Kategorien zur Beurteilung übernatürlicher Phänomene geben. Im günstigsten Fall wird ein angebliches Wunder mit der Kategorie „Nihil obstat“ (zu Deutsch: „Es steht nichts entgegen“) bewertet.
Das bedeutet den Angaben nach, dass es zwar keine Gewissheit über die übernatürliche Echtheit gibt, aber doch Anzeichen für ein Wirken des Heiligen Geistes. Die Gläubigen dürfen das Phänomen ohne Weiteres verehren und würdigen.
Die restlichen fünf Kategorien beschäftigen sich mit Grauzonen, die letzte Kategorie sieht jedoch vor, ein Phänomen klar als nicht übernatürlich zu betrachten. Phänomene werden zunächst vom lokalen Bischof in die Kategorien eingeteilt, der Vatikan trifft die endgültige Entscheidung. Laut Vatikan wurden nach 1950 nicht mehr als sechs solcher Fälle offiziell geklärt. Mit den neuen Normen soll der Prozess der Bewertung schneller werden.
„Wunder gibt es immer wieder“, sang Katja Ebstein im Jahr 1970 beim Eurovision Song Contest. Die Schlagersängerin dachte dabei wohl eher an die wundersame Rettung von verschütteten Bergleuten, an eine große Liebe, die über alle Widerstände obsiegt, oder an unheilbar Kranke, die plötzlich genesen. Für gläubige Christen dagegen sind Wunder weit mehr als unerklärliche profane Geschehnisse: Es sind Zeichen Gottes, der unerwartet in die Geschichte eingreift.
Wunder sind nicht alltäglich. Das Außergewöhnliche, Mirakulöse, Heilige ist ihr Kennzeichen. Sie durchbrechen das Normale und Gewohnte, das Erstarrte und Erwartete. Die biblischen Wundererzählungen berichten von außergewöhnlichen Erfahrungen, die Menschen machen und denen eines gemeinsam ist: Man muss an sie glauben und in ihnen Zeichen für Gottes Wirken sehen. Erst dann enthüllen sie ihren tieferen Sinn.
Das Neue Testament ist voll von Wundertaten, die Jesus vollbringt: Tote werden auferweckt, Aussätzige geheilt, Besessene vom Satan befreit. Blinde können wieder sehen, Lahme gehen, Taube hören, Stumme wieder sprechen. Jesus geht über das Wasser und stillt einen Seesturm, wandelt Wasser zu Wein und vermehrt Brote und Fische.
Was sind die biblischen Wunder – historische Fakten oder religiöse Symbole, Tatsachenberichte oder mythische Erzählungen? Bis weit ins 20. Jahrhundert hielten die Kirchen daran fest, dass die Wunder Jesu und der Heiligen in realiter geschehen sind. Heute ist man davon nicht mehr so felsenfest überzeugt.
Der Name Rudolf Bultmann (1884–1976) steht für die Entmythologisierung der neutestamentlichen Verkündigung. Dieser bedeutende protestantische Theologe wollte den wahren Kern des christlichen Wunderglaubens herausschälen und die biblischen Wunderberichte als Legenden entlarven. Bultmann zufolge wurde das Neue Testament aus einem mythologischen Weltbild heraus geschrieben, das inzwischen von einer wissenschaftlichen Herangehensweise abgelöst worden sei.
Um eine überholte Gedankenwelt nicht zur Voraussetzung des Glaubens werden zu lassen, sei es Aufgabe der Theologie, den vom Weltbild unabhängigen Kern der Verkündigung herauszuarbeiten, so Bultmann. „Man kann nicht elektrisches Licht benutzen, moderne medizinische Mittel in Anspruch nehmen und gleichzeitig an die Geister- und Wunderwelt des Neuen Testaments glauben“, schrieb er 1941 im Aufsatz „Neues Testament und Mythologie“.
Selbst die so wundergläubige Katholische Kirche hat ihren Wunder-Kanon mächtig entschlackt. So werden sie im „Katechismus der Katholischen Kirche“ (2005) nur noch im Zusammenhang mit den Wundern Jesu erwähnt. „Wäre Jesus nicht auferstanden, wäre unser Glaube null und nichtig!“, heißt es im Ersten Brief an die Korinther (15,14).
Doch ungeachtet der Religionskritik und Säkularisierung des Glaubens hält die Kirche am Wunderglauben fest. Wunder sind Voraussetzung für jede Selig- und Heiligsprechung, der ein strenges und langwieriges Prüfungsverfahren vorausgeht. Es handelt sich dabei um feste Regeln für das Unerklärliche und Transzendente, das die sinnliche Erfahrung übersteigt.
Ein rund 70-köpfiges Gremium der vatikanischen Kongregation für die Selig- und Heiligsprechungsprozesse – Theologen, Juristen und Mediziner – durchstöbert Krankenakten und klinische Berichte, begutachtet Röntgenbilder, liest Zeugenaussagen und wälzt ganze Bibliotheken an Büchern und Unterlagen. Mit einer wissenschaftlichen Exaktheit und Akribie, dass man meinen könnte, es gehe um die Lösung eines Kriminalfalls.
Regulär dauern Seligsprechungen – die die Vorstufe zur Heiligsprechung sind – Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte. Die vatikanischen Expertisen gehören zu einem komplizierten Verfahren, das wissenschaftlich hieb- und stichfest nachweisen soll, was an einem Wunder so unerklärlich sein soll. 2004 wurde das „Martyrologium Romanum“ aktualisiert, das alle 6650 Heilige und Selige sowie 7400 Märtyrer auflistet.
Das Heiligenwesen in seiner heutigen Form wurde 1588 von Sixtus V. geregelt. Im frühen Mittelalter hatte noch das Kirchenvolk für sich entschieden, wen es für heilig hielt. Ab dem hohen Mittelalter trat anstelle dessen ein kirchenrechtlich genau festgelegter Prozess. Darin werden vom sogenannten Verteidiger Gottes (Advocatus Dei) Argumente für die Heiligsprechung vorgebracht, während seine Konterpart, der Anwalt des Teufels (Advocatus Diaboli), dagegen argumentiert.
Papst Johannes Paul II. (1920–2005) hält den Rekord: Während seines Pontifikats (1978–2005) sprach er 1316 Personen selig und 483 heilig. Bis 1983 waren für Seligsprechungen bis zu vier und für Heiligsprechungen drei weitere Wunder erforderlich. Johannes Paul II. ließ die Zahl auf je eine wundersame Tat reduzieren.
Voraussetzung ist, dass man im Kirchenvolk verehrt wird und die Person überdurchschnittlich tugendhaft gelebt hat. Sollte der Betreffende als Märtyrer gestorben sein, reicht das „Blutopfer“ aus.
Die Medizin kennt Spontanheilungen, für die aber mehr die Arzneidosis und Selbstheilungskräfte des Menschen verantwortlich gemacht werden als Übernatürliches. Doch was wäre die Katholische Kirche ohne Wunderglauben. Auch die Entzauberung der Welt durch die moderne Wissenschaft hat das Paranormale nicht aus den Köpfen und Herzen der Gläubigen vertrieben.
Wunder bewegen sich auf einer anderen Ebene als Chemie, Biologie und Physik. Sie durchbrechen die Naturgesetze und sind unerklärlich – trotz vermeintlich wissenschaftlicher Prüfungen durch den Vatikan.
Letztlich erschließen sich Wunder nur dem, der auch bereit ist, eine übernatürliche Ursache zu akzeptieren. „Für Gott ist nichts unmöglich“, heißt es im Lukas-Evangelium (1, 37). Erst der Glaube macht das Unerklärliche zum Wunder, das nicht wissenschaftlicher Beweis ist, sondern göttliche Poesie.
„Blutende“ Madonna
Das Bistum Dresden-Meißen verzeichnet große Resonanz auf die „blutende Madonna“ von Ostro in Sachsen, obwohl man für das vermeintliche Wunder seit Mitte April eine natürliche Erklärung gefunden hat. „In unserer Region gab es vor allem auf unseren Social-Media-Kanälen Interesse an der Auflösung des Phänomens“, sagte Bistumssprecher Michael Baudisch. Manche hätten gemeint, dass es trotz Auflösung dennoch in gewisser Weise ein Wunder gewesen sei.
Rote Substanz
Augenzeugen hatten Mitte März in einer Feldkapelle in Ostro nordwestlich von Bautzen auf den Köpfen einer Muttergottesfigur mit Jesuskind eine rote Substanz bemerkt. Die Statue befindet sich in einer Grotte aus Natursteinen hinter einem Gitter. Gläubige vermuteten ein Madonnen-Wunder hinter der Erscheinung. Das Bistum ließ die Substanz deshalb wissenschaftlich untersuchen. Am Dienstag brachte es nun Licht ins Dunkel. Demnach sind Milben für die rötliche Färbung verantwortlich.
Krabbelnde Milben
Klaus Reinhardt, Professor für Angewandte Zoologie an der Technischen Universität Dresden, hatte den Fall unter die Lupe genommen und eine typische Verhaltensweise der Spinnentiere festgestellt. Demnach versuchen Milben, bei steigenden Temperaturen auf einen höher gelegenen Punkt zu krabbeln. Das könnte ein Grund für die Ansammlung der Milben auf den beiden Köpfen der Statue sein, hieß es. Die Bestimmung der genauen Milbenart sei aber nur mit hohem Untersuchungsaufwand möglich und dauere noch an.
Wundersame Phänomene
„Unter den Gläubigen der Region hatte das Phänomen für beträchtliches Aufsehen gesorgt. Aufnahmen waren in Social-Media-Berichten und Nachrichtenmeldungen verbreitet worden. Gläubige hatten sich zum Gebet vor der Marienstatue versammelt“, teilte das Bistum mit. Die Katholische Kirche lasse bei der Bewertung scheinbar wundersamer Phänomene bewusst besondere Vorsicht walten und habe daher frühzeitig darum gebeten, von religiösen Interpretationen Abstand zu nehmen.
Wunder der Schöpfung
Ein „Wunder“ kann nun tatsächlich nicht verkündet werden. Nach kirchlichem Verständnis handelt es sich im konkreten Fall faktisch „lediglich“ um eines der zahlreichen Wunder in Gottes Schöpfungswerk“, teilte das Bistum mit. „Ich möchte allen Gläubigen, die sich durch dieses Ereignis zum besonderen Gebet aufgerufen gefühlt haben, meinen ausdrücklichen Dank aussprechen. Es stimmt optimistisch, wenn Gläubige auf vielfältige Weise sensibel bleiben für die Zeichen Gottes an uns Menschen in dieser Zeit“, erklärte Generalvikar Andreas Kutschke.