Reinhardt erklärt: „Wenn ausgerechnet diejenigen angegriffen und in ihrer Arbeit behindert werden, die anderen Menschen bei Krankheit und in Notsituation helfen, ist das nicht nur eine neue Dimension gesellschaftlicher Verrohung, es ist ein echtes Problem für die Allgemeinheit.“ Der Schutz von Leib und Leben im Gesundheitswesen gehöre dringend auf die Agenda der neuen Bundesregierung, fordert er. „Diese Gewaltspirale muss gestoppt werden.“
Hohe Dunkelziffer vermutet
Denn es betreffe ihn nicht allein, meint Schimke - er habe viele Zuschriften von Kollegen erhalten: „Es muss eine unendlich hohe Dunkelziffer geben.“ Allerdings seien Aggressionen weniger im Sprechzimmer, sondern mehr an der Anmeldung zu beobachten: „Man merkt den rauen Ton.“
Auch Reinhardt betont, es handele sich um keinen Einzelfall: „Gereiztheit ist weit verbreitet, und die Schwelle, an der sie übergeht in Aggression, ist definitiv gesunken. Auf den Straßen werden Notärzte und Rettungssanitäter angegriffen. In den Notfallambulanzen werden die Mitarbeiter wegen Nichtigkeiten angepöbelt oder sogar angegriffen. Auch in unseren Praxen kommt es immer häufiger zu gewaltsamen Übergriffen.“
Renneberg spricht von einem „immer rücksichtsloser werdenden Umgang mit den Beschäftigten im ärztlichen Notdienst, in Notaufnahmen, in Praxen, Kliniken sowie an vielen anderen Stellen der Gesundheitsversorgung“. Sie betont: „Dies ist absolut inakzeptabel.“
Viele Gewalterfahrungen
Nur: Wie häufig kommt es zur Gewalt? Nach einer Online-Umfrage der Kassenärztlichen Bundesvereinigung unter knapp 7.600 Ärzten und Ärztinnen, Psychotherapeuten und medizinischen Fachangestellten haben vier Fünftel von ihnen 2023 Beschimpfungen, Beleidigungen oder Drohungen erlebt. Davon schalteten 14 Prozent die Polizei ein oder erstatteten Anzeige. Und 43 Prozent der Befragten erlebten in einem Zeitraum von fünf Jahren auch körperliche Gewalt. Diese reichte von Tritten gegen das Schienbein, Schubsen und Spucken bis hin zu schweren Angriffen.
Erhellend dürfte auch eine Umfrage der Ärztekammer Westfalen-Lippe unter ihren Mitgliedern zu deren Erfahrungen mit Gewalt von Mai 2024 sein. Binnen weniger Tage meldeten sich 4.513 Ärztinnen und Ärzte zurück - und mehr als die Hälfte (2.917) davon bejahte die Frage, im ärztlichen Alltag bereits Gewalt erfahren zu haben.
Die Kassenärztliche Vereinigung Westfalen-Lippe teilte mit, bei einer Umfrage zu Gewalt im vergangenen Jahr hätten 750 Praxen geantwortet - fast 20 Prozent hätten wegen Gewalterfahrungen in der Praxis Schwierigkeiten, ausreichend Personal zu finden.
„Hausärzte sind immer allein“
Was speziell niedergelassenen Ärzten das Leben erschwert: Hausärzte verzichteten auf persönlichen Schutz, indem sie sich in potenziell gefährliche Situationen begäben, um Patienten zu helfen - wie beim Hausbesuch, erklärt Schimke. Dabei sei oft unklar, ob sie etwa auf einen psychisch kranken oder einen drogenabhängigen Menschen treffen. Doch während Rettungskräfte normalerweise nicht allein im Einsatz seien, gelte: „Hausärzte sind immer allein.“
Und wie macht der 54 Jahre alte Hausarzt Andreas Schimke aus Spenge nun weiter? Es mache etwas mit den Menschen, wenn sie mit dem Tod bedroht würden, sagt er - betont aber auch: „Ich bin nicht der Typ, besorgt in die Praxis zu gehen.“