Kulmbacher in der Ukraine Ein Jahr im Krieg

Das Nachbarhaus von Thomas Simmlers Wohnung in Marhanez wurde von einer russischen Rakete betroffen. Die Besitzerin – selbst Russin – überlebte schwer verletzt. Foto: privat

Als der Krieg in der Ukraine ausbricht, ist Thomas Simmler aus Mainleus fast zufällig vor Ort. Dann verbringt er das gesamte Kriegsjahr in dem gebeutelten Land. Ein Protokoll in zwölf Kapiteln – zwischen Hoffen und Bangen.

 
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Als Thomas Simmler an diesem Morgen des 24. Februar 2022 in der 40 000-Einwohner-Stadt Marhanez die Augen aufschlägt kann er nicht ahnen, wie sehr dieser Tag die Geschichte der Welt verändern wird. Eines aber ist klar: Überrascht ist er nicht. Der inzwischen 64-Jährige, der aus Mainleus stammt, hat damit gerechnet, dass Putins Truppen losschlagen werden. Nun ist es passiert - und er ist er mittendrin. In der Ukraine. Im Krieg gegen Russland.

Eine Stunde, nachdem seine Tochter Sofia ihn geweckt hat, sagt die Nachbarin: „Schau mal, Thomas, dort brennt ein Haus.“ Als er sich auf der Straße umsieht, merkt er: Da brennt kein Haus. Stattdessen sind zwei russische Raketen eingeschlagen. Simmler holt Geld bei der Bank, kauft Lebensmittel für einen ganzen Monat und jede Menge Zigaretten. Dann heult die Sirene. Luftalarm.

Februar: Wenige Tage nach Kriegsbeginn versucht Thomas Simmler mit Sofia und ihrer Mutter Irina zu fliehen. Das Ziel: Die Westukraine. Der Taxifahrer will 1200 Euro. „Ohne Garantie“, sagt er. Der Weg ist gefährlich. Es soll Minen geben. Ob das stimmt? Niemand weiß es. Freunde und Verwandte raten ab. Alle drei bleiben in Marhanez. In der ersten Woche verbringen sie viel Zeit im Keller. Bei Luftalarm heulen die Sirenen oft stundenlang. Der Dauerlärm schlägt aufs Gemüt. In der Apotheke sind die Beruhigungsmittel ausverkauft. Auch Verbandssachen gibt es nicht mehr. Immerhin: Lebensmittel sind vorhanden, auch deshalb, weil viele Ukrainer Hühner und Schweine besitzen und Gemüse im Garten anbauen.

März: Von einem Hügel aus kann Thomas Simmler das größte Atomkraftwerk (AKW) des Landes in Saporischschja sehen. Ein Ort, der in den kommenden Monaten weltweit in den Schlagzeilen sein wird. Das AKW fällt nach wenigen Kriegstagen in die Hände der Russen. An die Luftalarme gewöhnen sich die Menschen in Marhanez schnell. Schon nach kurzer Zeit flüchtet kaum noch einer in den Keller. Das Schlimmste sind nicht die Raketen. Das Schlimmste ist die Angst vor den russischen Soldaten.

In seinem Ukraine-Tagebuch bittet Thomas Simmler um Unterstützung für zwei junge Ukrainerinnen. Julia und Renata sind die Tochter von Inna, einer Frau aus Dnipro, die ihn in seinen ersten Jahren in der Ukraine und Russland stark unterstützt hat. Die Versorgungslage ist okay. Die Läden haben mal dies und mal jenes. Nach drei Wochen Krieg findet Simmler erstmals seine geliebten Pfefferminzbonbons wieder. „Die beruhigen meine Nerven“, sagt er – und kauft gleich mehrere Packungen davon.

April: Die „Moskwa“ geht unter. Die Ukrainer haben das Flaggschiff der russischen Schwarzmeerflotte versenkt. In Marhanez feiern die Menschen auf den Straßen. Dort kommen in diesen Tagen viele Flüchtlinge aus dem Osten des Landes an. „Keiner von denen fühlt sich befreit, wie Putin behauptet. Alle sind froh, dass sie weg sind dort“, erzählt Simmler. An Ostern müssen die Ukrainer auf den Spaziergang am nahen Dnipro, dem drittgrößten Fluss Europas, verzichten. Die Miliz versperrt den Zugang. Auch zu den riesigen Getreidefeldern kommt niemand durch. Selbst die Landwirte brauchen eine Sondergenehmigung. Die Angst vor Sabotage ist groß. Aus dem Landkreis Kulmbach meldet sich eine Vielzahl von Menschen, die Julia und Renata helfen wollen. Das gelingt. Sie kommen in Rosenheim unter und sind in Sicherheit.

Mai: Flüchten oder bleiben? Irina und Sofia wollen nicht weg. Marhanez ist ihre Heimat. Hier lebt die Familie. Hier steht das eigene Haus. Zudem fühlen sie sich dort in Sicherheit. „Ich fürchte, dass sich das jederzeit ändern kann“, ahnt Thomas Simmler. Sie entschließen sich, wenigstens Reisepässe für Mutter und Tochter zu besorgen. Für den Notfall. Weil der Vater Deutscher ist, gestaltet sich das bei Sofia schwierig. Bürokratie gibt es auch im Krieg. Die Überzeugung, dass die Ukraine den Feind zurückdrängen kann, wächst. Nach der Angst der ersten Wochen und dem Vormarsch der Russen, helfen Waffenlieferungen aus aller Welt. Ende des Monats fliegen über Marhanez erstmals russische Raketen hinweg.

Juni: Tochter Sofia feiert ihren zehnten Geburtstag. Normalerweise findet an solchen Tagen am Abend ein kleines Feuerwerk statt. Diesmal nicht. Simmler beobachtet Sofia und deren Freunde im Garten: „Sie haben Bunker ausgehoben, patriotische Lieder gesungen und für Putin eine ganz besondere Suppe gekocht“. Ob ihm das Angst macht ? „Nein, denn es ist die Realität. Aber es tut mir wahnsinnig weh, dass Kinder das erleben und so aufwachsen müssen.“ Und er selbst? „Auf Dauer kann und werde ich nicht hier bleiben, aber im Moment ist es der richtige Platz in meinem Leben. Ich erlebe zum ersten Mal tagtäglich, wie eines meiner Kinder aufwächst.“ Dass auch der schlimmste Krieg positives zur Folge hat, erleben die Ukrainer alle. Ihr Zusammenhalt ist größer als je zuvor.

Juli: In Marhanez kommt eine Hilfslieferung an. Lebensmittel und allerlei Produkte des täglichen Bedarfs werden verteilt. Geschickt hat sie Rinat Achmetow, der vielleicht wichtigste jener Oligarchen, die viele Jahre lang die Ukraine unter sich aufgeteilt haben. Als der ukrainische Präsident ganz in der Nähe seine Heimatstadt Krywyi Rih besucht, reagieren die Russen mit wütendem Raketenbeschuss. Die Ukrainer antworten von Marhanez aus mit ihrer Artillerie-Abwehr. Die macht den Kindern Angst.

Wenige Tage später steht über dem Atomkraft Saporischschja eine riesige Rauchwolke. Der Mainleuser schickt ein Foto an unsere Redaktion. Kurz Zeit später berichten Medien in aller Welt – wieder einmal – von heftigen Kämpfen rund um das AKW.

August : Am 9. August schlagen am Kulturzentrum in der Stadtmitte von Marhanez russische Raketen ein. 13 Menschen sterben. Der Unglücksort ist 500 Meter Luftlinie entfernt. Tags darauf flüchtet Irina mit Töchterchen Sofia zu ihrer Schwester in die nahe Millionenstadt Dnipro. Thomas Simmler hält das für extrem gefährlich, dringt aber mit seinen Argumenten nicht durch. Als seine beiden erwachsenen Kinder ihn am Telefon von Deutschland aus anflehen, Marhanez endlich zu verlassen, stiegt er in einen Zug Richtung Westukraine. Im Internet bucht er ein Zimmer im Kurort Truskawez am Fuß der Karpaten. Simmler erreicht die Stadt nach 24 Stunden Fahrzeit und sagt: „Ich bin froh, aus dieser Scheiße raus zu sein.“ In Truskawez kann er zum ersten Mal seit langer Zeit wieder durchschlafen.

September: Am 23. klingelt um 6 Uhr früh das Handy. Irina ruft an. Eine russische Rakete hat das Haus in Marhanez getroffen und jenes der Nachbarin zerstört. Deren Besitzerin, eine freundliche alte Frau, kämpft im Krankenhaus ums Überleben. Ihr Hund ist tot. „Bei uns sind die Scheiben geborsten, das Dach zerstört und überall liegen Granatsplitter“, teilt Irina mit. Thomas Simmler ist außer sich.

„Ich habe eine solche Wut. Auf Putin, auf die Soldaten, auf alle Russen“, sagt er. „Das hat mit ,normalem‘ Krieg nichts mehr zu tun. Sie schießen wahllos um sich und es ist ihnen egal, ob sie Zivilisten töten oder nicht.“ In Truskawez ist der 64-Jährige sicher. Der Krieg aber ist auch hier greifbar. Nahezu jeden Tag ist ein ukrainischer Soldat aufgebahrt. Der Sarg wird von einer Landesflagge zugedeckt. Auf der Treppe zur Kirche liegen Blumen in gelb und blau. Und Russland? Putin ordnet eine Teilmobilisierung an. „Vielleicht“, sagt Simmler, „werden die Mütter jener Männer aufstehen, die jetzt eingezogen werden. Das ist meine Hoffnung.“

Oktober: Die Nachbarin hat beim Raketenangriff ein Auge verloren. Ein Bein ist verletzt. Aber sie hat überlebt. „Das Verrückte ist: Die Frau ist Russin. Sie greifen ihre eigenen Leute an“, erzählt Simmler. Die Einwohner von Marhanez sammeln für die Rentnerin, die alles verloren hat. Obwohl die Stadt erneut attackiert wird und mehrere Menschen ums Leben kommen, ist Irina mit ihrer Tochter Sofia zurückgekehrt. In den kommenden Wochen und Monaten wird sie das Haus reparieren lassen, auch wenn Thomas Simmler sie anfleht, sich lieber in Sicherheit zu bringen.

November: Ende des Monats beginnt Russland einen Energie-Krieg gegen das Nachbarland. In vielen Städten gibt es weder Strom noch Wasser. Auch Internet und das Telefonnetz fallen immer wieder aus. Thomas Simmler hat Glück. Weil er ein Zimmer direkt neben Bahnhof und Eisenbahnlinie gemietet hat, ist er ans Stromnetz der Bahn angeschlossen. Warum er nicht nach Deutschland zurückkommt? Das, so sagt er, habe zum einen praktische Gründe. Das Leben in der Ukraine ist vergleichsweise günstig. Und zum anderen wolle er in der Nähe seiner Tochter Sofia und deren Mutter bleiben.

Dezember : An Weihnachten gibt es Forelle aus den Karpaten. Die gilt dort als Delikatesse. Die Kirchen sind an den Feiertagen auch nicht voller als in Deutschland. Trotz der schrecklichen Folgen des Kriegs und trotz all der Hoffnung, dass dieser bald aufhören möge. Darf man überhaupt Weihnachtsbäume mit Lichterketten aufstellen, während der Strom knapp ist und an der Front Soldaten sterben? Man muss sogar, sagen die Ukrainer, um diesen Krieg und das viele Leid zu ertragen. „Es ist ein Zeichen der Stärke, sich nicht kleinkriegen zu lassen von den russischen Raketen. Es ist wenigstens ein bisschen Frieden“, sagt Simmler.

Januar: Fast jede Familie in der Ukraine ist inzwischen direkt vom Krieg betroffen. Auch jene von Irina, der Mutter der gemeinsamen Tochter Sofia. Der Ehemann ihrer Cousine hatte lange Glück. Jetzt muss er in ein Trainingscamp und in paar Monaten wartet die Front. Der Freund ihrer Schwester war in Bachmut. Die hart umkämpfte Kleinstadt im Osten kennt die ganze Welt. Was dort passiert? Die Soldaten dürfen zu Hause nichts erzählen – aus Sicherheitsgründen. Die Familie wusste lange nicht einmal, wo der Freund sich aufhält. Ein einziger Satz von ihm sagt alles: „Bachmut ist die Hölle.“

Februar: Der recht milde Winter kommt den Menschen zugute. Trotz aller Stromausfälle. Thomas Simmler trifft es meist am Vormittag. „Da ist es dann eiskalt in meinem Zimmer.“ Weil er Deutscher ist, akzeptieren die Ukrainer, dass er mit ihnen russisch spricht. Ansonsten verschwindet zumindest alles aus dem Alltag, was mit Russland zu tun hat. Tochter Sofia in der Schule noch kein Wort Russisch gelernt – ganz anders als all die Generationen zuvor. Eine gute Woche vor dem Jahrestag sind alle besonders nervös. Zum ersten Mal überhaupt seit seinem Umzug vor fünf Monaten zischt die erste russische Rakete über Truskawez. Kurz darauf fängt die ukrainische Luftabwehr zwei weitere ab – der Lärm ist ohrenbetäubend. „Als ob ein Überschall-Jet über die Stadt fliegt.“ Die dritte schlägt in ein E-Werk ein. Thomas Simmler wird einmal mehr klar: „Ich lebe hier im Krieg.“

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