Wunsiedel - Irgendetwas, nein: Irgendeiner hockt unterm Tisch. Mich, der alte Knecht, fordert den Versteckten auf, er solle hervorkommen: "Du bist doch koa Hundl." Das Wesen, das daraufhin in verdrecktem Unterzeug, barfuß, auf allen Vieren seinen Unterschlupf verlässt, es trägt eine Maske, ein anderes Gesicht als sonst die Menschen. Ein anonymes Gesicht. Aber, nein, "a Hundl" ist es nicht.

Eine ungemütliche Geschichte. Bei ungemütlichem Wetter hatte sie auf der Luisenburg am Freitag Premiere. "Des is wiada a Kältn draußn", knurrt Mich, der Knecht, und meint damit nicht die Mindergrade auf der feuchten Naturbühne, sondern - ohne dass er's weiß, symbolisch - das Klima im Tiroler Dorf, worin Autor Felix Mitterer sein vierzig Jahre altes Dramendebüt spielen lässt; eigens eine Wunsiedler Fassung fertigte der Autor daraus: "Wast - wohin?" Vor dem Hintergrundrauschen aktueller Integrations-, Inklusions- und Migrationsdebatten gibt das Volksstück, ohne in die Jahre gekommen zu sein, plakativ, doch bewegend anschaulich ein Beispiel dafür, worum es, abseits frommer Sonntagsreden in Politik und Medien, wirklich geht: oft genug ums nackte Leben.

Das Wesen kann reden, stellt Mich überrascht fest, und sogar sagen, wie es heißt, Wast - für Sebastian -; und allerdings heult Wast auch oft wie ein Hund. Der Vater prügelt ihn denn auch am Morgen wach wie einen geschundenen Köter. So ungemütlich, schmählich gewaltsam, beginnt die Aufführung. Überfordert sind die freudlosen Eltern: Eine Plage ist Wast, der 20-jährige "depperte Lappen", für sie, eine Enttäuschung, weil er ihr Bauernzeug nicht übernehmen kann, als "Monstrum" eine Schande vor den Nachbarn. Die "traurige" Mutter - deren in den Tiefen eines ausgemergelten Herzens verkümmerte Liebe Chris Nonast sublim spüren lässt - will sich und dem behinderten Sohn das Leben nehmen und scheitert dabei. Der Vater - Hans Staudinger, vor den Trümmern seiner Hoffnungen zum depressiven Schläger gesunken - stellt es in eigener Sache geschickter an. An seinem Sarg lernt Wast, dass der Tod, wie der Schlaf, ein Teil vom Leben ist und umgekehrt.

Von Mich lernt er's, der sich des vermeintlichen Dorfdeppen annimmt, ihm Schreiben, Lesen und Vernünftigsein beibringt: Arthur Brauss, eindrucksvoll in seiner gemächlichen Natürlichkeit, bringt es fertig, rund um die humanistische Botschaft des Dramas herum unverkrampft einen guten Menschen zu spielen, ohne sich mit Gutmenschentum aufzublähen. "Er ist mein Schützling, und ich bin seiner", sagt Mich kurz und gut über sich und den Wast. Aber solche Symbiose passt sich ins Dorfreglement schlecht ein. Störenfried Adi lässt die beiden Individualisten aus dem Wirtshaus, aus der Öffentlichkeit weisen: Alfred Schedl, auf der Luisenburg vielfach als Kauz oder Tölpel dabei, erweist in der Rolle des versoffenen Streithammels, dass er, beängstigend, auch den alltäglichen Teufel kann. In ihm offenbart die Gemeinschaft ihr anderes Gesicht: Befremden, Misstrauen, Verachtung. Wast reißt seinen Nächsten die Maske herunter durch seine bloße "schiache" Existenz.

Auf wenig Raum, in wenigen Räumen spielen sich die Kernszenen des Verhängnisses ab. Dafür verbrämte Jörg Brombacher sehr attraktiv die Natur der Bühne mit beleuchtbaren Podien auf verschiedenen Niveaus. Ein Kammerspiel aber will Regisseur Christoph Zauner doch nicht daraus machen: Motorisierte Gefährte lässt er auffahren - einen Hanomag-Traktor und einen alten Fiat 500, ein Motorad und einen Polizei-Käfer in Grün -, alle glänzend, glatt und blankgeleckt (wie das so ist auf dem Land): Mätzchen ohne Not. Denn um Darstellertheater handelt sich's, und zwar um solches erster Sorte. Auch wenn zwischen den vielfach kurzen Szenen sich oft lange Pausen dehnen: Die Spannung hält in jedem Augenblick.

Was zuerst dem atemberaubenden Moritz Katzmair zu danken ist. Sein Wast gehört zu den großartigsten Wunsiedler Schauspielerleistungen der vergangenen zehn Jahre. Dem behinderten Menschen nimmt er sein Befremdendes nicht, wohl aber das Monströse, vor dem die Dörfler sich fürchten. Akribisch spielt Katzmair die Rituale aus, die der Autist absolviert, bevor er Stufen steigt, die Zackigkeit von Hand und Arm, die Verkrampfungen des Kopfes. Lustig kann das sein; lächerlich nie. Nicht Mitleid erweckt der grandiose Jungakteur, sondern Anteilnahme - und allemal Interesse.

Sein Wast ist nicht "normal"; aber er nimmt sich das Recht, auf seine Art wie die anderen zu werden: Das Etwas ist Einer. Die Maske, das zweite, das andere Gesicht, dem "Deppen" aufgedrängt, legt Katzmair ab und wird in seiner arglosen Lebensfreude und unternehmungslustigen Zugewandtheit kenntlich - so unmittelbar, dass er einem Mädchen (Simone Bartzik, unerschrocken) die "praktische" Vorrichtung präsentiert, die Männer "zum Bieseln zwischen die Fiaß" haben. Einen "gemeingefährlichen Schmutzfinken" macht nicht jene harmlose Entblößung aus ihm, sondern die übertriebene Gegenwehr der anderen. Schon die Städte, erst recht die Dörfer sind, bis heute, nicht barrierefrei.

"Die Welt ist groß", meint Mich, "da ist eigentlich Platz für alle." In Wahrheit ist, wie fürs Christkind, kein Raum in der Herberge. Wast, das ewige Kind, versteht nicht recht, was Mich ihm von Jesu Geburt erzählt. Aber er ahnt vielleicht: Die Weihnachtsgeschichte, genau betrachtet, ist eine ungemütliche Geschichte, und auch sein eigenes Leben, von Geburt an, ist eine Passion.

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Nächste Aufführungen auf der Luisenburg: Samstag, 20.30, Sonntag, 15 Uhr. - Donnerstag, Museumshof, 20 Uhr: "Luisenburg-Xtra": "Cherubim" nach Werner Fritsch.

Wast und Mich (Moritz Katzmair, Arthur Brauss, oben): Nicht Etwas, sondern Einer.

Foto: Festspiele/H. Bessermann


Die Welt ist groß, da ist eigentlich Platz für alle.

Mich, der Knecht


Er ist mein Schützling, und ich bin seiner.

Mich über Wast


Die Träger der Luisenburg-Nachwuchspreise

Hanna Plaß und Moritz Katzmair erhalten in diesem Jahr die Nachwuchspreise der Wunsiedler Luisenburg-Festspiele. Eine vierköpfige Jury unter dem Vorsitz von Naturbühnen-Intendant Michael Lerchenberg hat sich am Sonntag für die beiden jungen Schauspieler entschieden. Die Stadt Wunsiedel ehrt Hanna Plaß mit ihrem Nachwuchspreis. Die aus dem Fichtelgebirge stammende Künstlerin ist als eine frische und natürliche Julia auf die Felsenbühne zurückgekehrt, auf der sie 2003 als Statistin begann. Gemeinsam mit ihrem Romeo Bastian Semm ist sie in William Shakespeares Liebestragödie das Traumpaar dieser Luisenburg-Saison. Der Gewinner des Rehau-Nachwuchspreises, Moritz Katzmair, hat sich heuer als behinderter Bauernbub im Stück "Wast - Wohin?" in die Herzen der Zuschauer gespielt. Bis zur Selbstaufgabe versenkt sich der begabte Mime in die Rolle des autistischen Ausgestoßenen (siehe Premieren-Besprechung). Die Preise sind mit jeweils tausend Euro und einem Kunstobjekt der Rehau AG dotiert. Ein Bericht über die Verleihung vom Sonntagabend folgt. Andrea Herdegen