Berlin - Auf den ersten Blick beginnen Jules Probleme mit einem Blowjob im Büro ihres Chefs. Auf den zweiten ist die schnelle Nummer nur Ausdruck tiefliegender Schwierigkeiten der jungen Berlinerin. Denn für Jule, Hauptfigur in Sarah Kuttners neustem Roman "180 Grad Meer" (S. Fischer), ist der körperliche Akt eine Flucht vor echter emotionaler Nähe. Zu dumm nur, dass ihr Freund Tim das nicht so recht nachvollziehen kann.

Um ihr Leben zu ordnen, fliegt Jule nach London zu ihrem Bruder Jakob. Doch der ist nicht ihr einziges Familienmitglied in England: Auch Jules Vater, der sie als Mädchen mit ihrer depressiven Mutter alleingelassen hat, lebt dort inzwischen mit seiner neuen Frau. Schnell wird klar: Der Schlüssel zu Jules Problemen liegt eigentlich in ihrer Kindheit. Doch um Frieden mit ihrem Vater zu machen, bleibt nicht mehr viel Zeit: Er hat Krebs.

Kuttner beschreibt in ihrem dritten Roman wie zuvor auch in "Mängelexemplar" die Folgen von Depressionen - mit dem Unterschied, dass die Hauptfigur diesmal nicht selbst darunter leidet, sondern die Erkrankung ihrer Mutter ihr weiteres Leben entscheidend beeinflusst hat. Mit dem Vorgänger "Wachstumsschmerz" hat "180 Grad Meer" unter anderem die Suche einer jungen Frau nach der richtigen Richtung im Leben gemein.
Weil Jule noch nicht so genau weiß, wie es mit ihr weitergehen soll, mietet sie sich erstmal in ein Hotel im britischen Eastbourne ein - von dem Geld, das ihr der Vater einst hinterließ. Dass der nur wenige Kilometer entfernt wohnt, ist natürlich kein Zufall.

Krebs, Depressionen, Probleme in der Familie. Kuttner schreckt in ihrem Buch nicht vor schweren Themen zurück. Dennoch ist es mit einer gewissen Leichtigkeit geschrieben - und Protagonistin Jule durch ihre Selbsterkenntnis und -ironie alles andere als eine Antiheldin.
Das erste Beispiel findet sich schon beim Einstieg: "Ich bin nicht greifbar. Wie ein winziger Schauer, der einem über das Rückgrat fährt, ein Wort, das einem nicht einfällt, das ungute Bauchgefühl, wenn doch eigentlich alles glattgelaufen ist. So bin ich", heißt es da. "Nicht weil ich mich so irre gut finde, sondern weil es das Einfachste ist."
Einfach macht es sich Jule im Verlauf der Geschichte dann aber nicht immer. Das liegt unter anderem auch daran, dass sie sich auf der Reise noch einen Leihhund zulegt, der ähnliche Schwierigkeiten wie sie hat, Nähe zuzulassen.
So viel sei aber verraten: Jule trifft schließlich ihren Vater - und der wiederum hat etwas mit dem Buchtitel "180 Grad Mee" zutun. Was genau, erfährt der Leser allerdings erst ganz zum Schluss.