The Salzburg Recital - Grigory Sokolov. Deutsche Grammophon, 1 CD, Nr. DG 479 4342
Wenn einer sich gern zurückzieht und zurückhält - sollte er dann Künstler werden? Bei Grigory Sokolov, dem notorisch reservierten Meisterpianisten, geht das eine mit dem anderen zusammen. Denn er scheut die Öffentlichkeit ja nicht; nur, dass er Abstand hält von den Maschinerien der Medien und des Marktes. Und von den Tonstudios: Ihrer Atmosphäre und den dort entstehenden Aufnahmen spricht er Inspiration und Fruchtbarkeit ab. "Ich mag all die Dinge nicht, die nichts mit Musik zu tun haben." Ein puristischer Anspruch: Wie großartig Sokolov ihn einlöst, lässt sich auf den zwei jüngst erschienenen CDs hören, die einen gefeierten Klavierabend des Künstlers während der Salzburger Festspiele 2008 dokumentieren. Zwei Mozart-Sonaten enthalten sie (KV 280 und 332), Frédéric Chopins 24 Préludes in allen pianistischen Spektralfarben - und nicht weniger als sechs Zugaben: zwei Scriabin-Poèmes, zwei Chopin-Mazurken, ein "wildes" Stück von Rameau, ein bachsches Choralvorspiel - allein schon in ihnen offenbart sich die unerhörte Klangzauberei des Meisters. Nicht einfach dankbare Gefälligkeiten für reichlichen Applaus; sondern flüchtige Visionen, die sich seismografisch zu einer Suite nobler Seelenregungen verbünden.
Franz Hummel: Diabelli-Variationen. - Angela Cholakian, TYXart, 1 CD, Nr. TXA14043
"Diabelli-Variationen"? Stammen die nicht von Ludwig van Beethoven?, fragt sich der Kenner der Klavierliteratur. Sogar den Untertitel übernahm Franz Hummel vom Opus 120 des Klassikers: "33 Variationen über einen Walzer von Anton Diabelli", dem 1858 gestorbenen Wiener Komponistenkollegen und Verleger. Keines Plagiats freilich machte Hummel sich schuldig, sondern wagte die Neuerfindung - und dabei das Zitat bis zur Parodie. Kräftig und gespannt durchquert Angela Cholakian die Spielarten des Konzertflügels und die Stile der Musikgeschichte seit Beethoven. Harmlose Stimmungen kontrastiert die hierzulande wenig bekannte armenisch-ukrainische Künstlerin mit heroischen, wählt da einen klassizistischen, dort einen impressionistischen Ansatz, gibt sich sachlich hart oder verliebt sich in den Schmelz der Romantik - und, ganz zum Schluss, in den Rhythmus des Rock. Dabei mutet die geistvoll unterhaltende Serie heimlich wie eine Sammlung raffinierter Übungsstücke an, wie tüchtige Etüden: Leicht spielt sich das alles wahrlich nicht.
Frédéric Chopin, Robert Schumann: Études. - Valentina Lisitsa. DECCA,
1 CD, Nr. 478 7697
Viele, die als Kind das Klavierspiel erlernen sollten und das Wort "Etüde" hören, erinnern sich schaudernd an nicht endende stumpfe Fingerhakeleien mit keiner anderen als pädagogischer Bedeutung. Haben solche Dinge noch mit Musik zu tun? Bei den großen Zyklen von Konzertetüden, wie sie Frédéric Chopin mit den zwei mal zwölf Stücken der Opera 10 und 25, wie sie Robert Schumann mit seinen "Symphonischen Etüden" opus 13 ersann, in jedem Fall. Mit so viel hochenergetischer Geläufigkeit und Artistik wie Feinsinn und Einfühlung nimmt sich die gebürtige Ukrainerin der poetisch-pädagogischen Werkfolgen an und findet dabei Gelegenheit, die Pranke, die sie sich während ihrer Schulung in Russland antrainiert hat, durch Fingerspitzenarbeit zu entlasten. Bei DECCA tut sie's, einem jener Labels, die lange nichts von der Künstlerin wissen wollten. Ihren Durchbruch verdankt Lisitsa den digitalen sozialen Netzwerken: 2007 stellte sie ihre Aufnahmen bei You-tube ein. Heute sorgen 73 000 Nutzer ihres Kanals für bislang 54 Millionen Klicks. Gegen die "virtuelle Tastenkönigin", schrieb die Welt , "ist Lang Lang ein Waisenknabe".
Visions fugitives - Anna Gourari. ECM New Series, 1 CD, Nr. 481 1157
"Flüchtige Visionen": Wer sie auf dem Klavier interpretieren will, darf sich keine Flüchtigkeiten erlauben. Wirklich genießt Anna Gourari bei Publikum und Kritikern den Ruf hoher Akkuratesse in verantwortungsbewusstem Spiel, großer Genauigkeit bei der deutenden Überlegung. In Sergej Prokofjews 20-teiligem Zyklus legt sie Stück für Stück, Minute für Minute (so lange, durchschnittlich, dauert jedes) einen je anderen Farb- und Atmosphärewert frei. So enthüllt die in München lebende Russin - doppelte Echo-Preisträgerin und 2014 für einen "Grammy" nominiert - ziemlich unerwartete Seiten des für seine Motorik berüchtigten Komponisten: entlarvt sein Ruhebedürfnis, seine verträumte Nachgiebigkeit. Bewegung mit Poesie mischt Gourari später auch in Frédéric Chopins dritter Sonate: Im Largo entfaltet sie eine tumultuarische, dabei wunderbar zarte Flüssigkeit. Wieder eine Art Übungsstück: flüchtiges Geglitzer an der Oberfläche, darunter visionäre Tiefensicht. Michael Thumser