Marktredwitz Die zerstörerische Stimme der Perfektion

Emily Haider

Eine Magersüchtige kämpft gegen Kalorien. Hungern gibt der Schülerin das Gefühl der Stärke, obwohl sie nur noch aus Haut und Knochen besteht.

 
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Egal, wie dünn sie tatsächlich schon sind: Für Magersüchtige bedeutet es die größte Genugtuung, wenn die Waage wieder weniger anzeigt. Foto: Monique Wüstenhagen, dpa Quelle: Unbekannt

Marktredwitz - Maries Knochen drücken auf die harte Holzbank. 41 Kilo auf 1,67 Meter - viel ist nicht übrig von dem einst so trainierten Mädchen. Haut und Knochen, ein paar Haare, eher ein Flaum: Ihr Körper hat sie damit eingedeckt, um sich vor der eisigen Kälte zu schützen. Marie, die eigentlich anders heißt, hat nicht immer 41 Kilo gewogen. Anfangs sollte es nur eine Diät sein, "einfach ein bisschen auf die Ernährung achten; in Kombination mit Sport - so, wie es alle tun auf Instagram und Co.", erzählt die 18 Jahre alte Schülerin aus Marktredwitz. Es hat funktioniert: Die Pfunde purzelten, viele Pfunde purzelten, um genau zu sein: Über 30 Pfunde purzelten.

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Jetzt sitzt Marie bei 15 Grad im Zwiebellook da, um ihre knochigen Beinchen zu verstecken und ihre innere Kälte aufzuhalten. Die Lippen der jungen Frau schimmern bläulich, der ganze Leib zittert, überall hat sie Gänsehaut. Maries größter Feind: Essen. Ihre tägliche Kalorienzufuhr reduzierte sie von 1500 auf 1000, auf 700, dann auf 300. "Manchmal null, höchstens 500 Kalorien" nimmt die junge Frau zu sich. Obwohl sie so zierlich und unscheinbar wirkt, richten sich viele Augen auf sie - nicht selten mit einer Mischung aus Mitleid und Ekel.

"Erst war es die Angst, wieder auf mein altes Gewicht zurückzufallen, später die Angst vor jedem Lebensmittel." Die Angst vor Kalorien, die Angst vor der Waage, vor dem kleinen roten Zeiger, der wieder 100 Gramm mehr anrechnen könnte. Marie merkte selbst, wie sie von Tag zu Tag schwächer wurde. "Meine Beine wurden dünner, jede Treppenstufe war eine Folter." Ihr Körper brauchte alle Energie, um das Herz auf Trab zu halten: Die Regelblutung blieb weg, ihre Haare fielen aus. "Irgendwann musste ich meine Kalorienzufuhr auf 800 erhöhen, weil ich sonst nicht durch den Tag gekommen wäre", erzählt Marie. Ihr Freundeskreis wandte sich ab, statt sie zu unterstützen. "Sie sahen in mir nicht mehr die Party-Löwin, die ich mal war." Auch Maries Mutter verstand ihre Tochter nicht mehr. "Ich weine, wenn ich Essen sehe. Meine Mutter weint, wenn sie mich sieht", sagt Marie. Natürlich interessiere sie sich für die Gefühle ihrer Mutter, natürlich tue es ihr weh, dass sie ihretwegen weine, beteuert die 18-Jährige: "Doch die Stimme, die mir sagt, ich soll nicht essen, ist zu tief in meinem Kopf verankert, als dass ich sie ignorieren könnte." Es ist die Stimme namens Perfektion. Marie hasst die Scham vor sich selbst, sobald sie etwas zu sich nimmt und liebt das Gefühl der Stärke, das in ihr aufkommt, sobald sie andere essen sieht. "Es ist eine Genugtuung", sagt das Mädchen. Sie braucht keine Lebensmittel, keine Kalorien, Sport jedoch umso mehr. Jeder Tag ohne Sport ist ein verlorener Tag. Selbst wenn sie sich schwach fühlt, ihr Körper schmerzt und nach Hilfe schreit: "Irgendwie quäle ich mich immer wieder dazu - Sit-up für Sit-up", erzählt Marie.

Ein Schrei nach Aufmerksamkeit sei das nicht. "Eine Essstörung ist immer Ausdruck für etwas. Das macht niemand, um Aufmerksamkeit zu erlangen", stellt Marie klar. Sie kennt die Mechanismen, mit der sich selbst lebensbedrohlich Essgestörte ihren Zustand noch schönreden: "Man hält sich nicht für krank, sondern redet sich selbst ein, man sei nicht gestört. Selbst wenn nicht mehr als Haut und Knochen übrig sind, flüstere die Stimme im Kopf weiter: "100 Gramm weniger gehen noch."