Interaktion von Genen und Umwelt
Der Mensch ist allerdings kein Gen-Roboter oder ein Sklave seiner Genome. „Wir werden nicht von unseren Genen gesteuert“, sagt Olaf Rieß, Ärztlicher Direktor des Instituts für Medizinische Genetik und Angewandte Genomik am Universitätsklinikum Tübingen. „Gesellschaftliche Situationen und bestimmte Umstände beeinflussen unser Verhalten erheblich.“
Es sind nicht einzelne Gene, sondern eine Kombination von Genen und äußeren Einflüssen, die Persönlichkeit, Denken und Verhalten prägen. Gemäß dieser Gen-Umwelt-Interaktion können Gene Umweltfaktoren verstärken oder abschwächen. Umgekehrt können Umweltfaktoren wie Erziehung, soziale Kontakte oder bestimmte Ereignisse die Ausprägung von Genen beeinflussen.
Biologie und Biografie
„Heute besteht kein Zweifel mehr daran“, sagt der Mikrobiologe Alexander S. Kekulé, „dass sowohl ‚Nature‘ als auch ‚Nurture‘ – genetische Veranlagung und Umwelt – zur Entwicklung beitragen.“
Das bestätigt auch der Essener Humangenetiker Bernhard Horsthemke. Ein komplexes Zusammenspiel von Veranlagung, Umwelteinflüssen, Erziehung und Lebensweise bestimme unser Verhalten, nicht einzelne Gen-Varianten. „Die Umwelt hinterlässt in unserem Genom Spuren – wie wir uns ernähren oder ob wir gestresst sind. Außerdem spielt die Epigenetik mit ihren vorgeburtlichen und frühkindlichen Entwicklungsbahnen eine große Rolle.“
Anna-Katharina Braun, Expertin für Entwicklungs-Neurobiologie an der Universität Magdeburg, veranschaulicht diese Wechselbeziehung so: „Stellt man sich die Gene als Tasten eines Klaviers vor, dann hängt es vom Pianisten – der Umwelt – ab, welche Tasten bzw. Gene an- oder abgeschaltet werden. Das Zusammenspiel von Genen und Umwelt bestimmt also das Ausmaß und die Richtung, in die das Wachstum der Nervenzellen und der Synapsen gesteuert werden kann.“
Das menschliche Genom: Erbgut, Gene, Epigenetik
Das Erbgut des Menschen - auch Genom genannt - besteht aus mehr als 22 000 Genen und enthält sämtliche Erbinformationen. Warum beispielsweise ein Individuum schwarze und keine blonden Haare hat, wieso seine Augen grau und nicht braun sind oder weshalb sein Intelligenzquotient höher ist als der anderer.
Mit der Genetik lässt sich vieles erklären - aber eben nicht alles. So muss sie etwa bei der Frage passen, warum der eine mit 60 Jahren dement wird und der andere schlecht mit Stress umgehen kann. Oder warum zwei Menschen das gleiche Krebs-Gen haben, aber nur einer von ihnen an einem Tumor erkrankt. Um das zu erklären, braucht es die Epigenetik.
Traumata über Generationen vererbt
Traumatische Erlebnisse können Verhaltensauffälligkeiten auslösen, die von Generation zu Generation weitergegeben werden. Hinter diesen psychischen Störungen stecken vielfach physiologische Vorgänge.
„Es gibt Erkrankungen wie zum Beispiel bipolare Störungen, die familiär auftreten, aber nicht auf ein bestimmtes Gen zurückzuführen sind“, erklärt die Hirnforscherin Isabelle Mansuy vom Institut für Hirnforschung an der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) in Zürich. Die Umwelt hinterlasse ihre Spuren im Gehirn, in den Organen und Zellen. „So werden diese Spuren teilweise an die nächste Generation weitergegeben.“
Wie Schicksalsschläge Gene steuern: die Rolle der DNA
Die Epigenetik untersucht die Regulation von Genen. Sie fragt, wann, warum und wie Gene plötzlich aktiv werden und weshalb sie in einem anderen Augenblick in eine Art Passivmodus verfallen. Diese Regelungsmechanismen haben mit biochemischen Prozessen in den Zellen und den in ihnen gespeicherten Informationen zu tun.
Zellen sind die kleinste biologische Einheit jedes Organismus. Der Mensch besteht aus Billionen von Zellen. Erst durch ihr perfektes Zusammenspiel entsteht Leben. Damit die Zellen wissen, wie sie aussehen und funktionieren sollen, enthalten sie in verschlüsselter Form Informationen, die sich in ihrem Zellkern befinden. Dieses Datenmaterial, das für ein bestimmtes Merkmal des Organismus verantwortlich ist, nennt man Gen.
Der Gen-Code - also die Erbinformationen im Zellkern - ist auf den Chromosomen gespeichert. Jede menschliche Zelle besteht aus 46 solcher Chromosomen: 23 väterliche und 23 mütterliche Erbgutabschnitte, die in der befruchteten Eizelle zusammenfinden. Man muss sich Chromosomen als lange, fadenförmige Gebilde vorstellen, die aus DNA (Desoxyribonukleinsäure; englisch: DNA - „Deoxyribonucleic acid“) und Proteinen (Eiweißmolekülen) bestehen.
Posttraumatische Belastungsstörung
Wie Genetik und Traumata konkret zusammenhängen, soll folgendes Beispiel illustrieren: Drei Bundeswehrsoldaten waren in Afghanistan in einen Hinterhalt der Taliban geraten. Dabei wurde ein Soldat schwer verwundet, ein zweiter starb noch vor Ort. Der Dritte blieb unverletzt, musste aber mit ansehen, wie sein Kamerad verblutete. Den anderen konnte er retten. Nachdem er nach Deutschland zurückgekehrt war, ging er wegen einer Posttraumatischen Belastungsstörung (auf Englisch: „Posttraumatic stress disorder“/PTSD) in eine Therapie und arbeitete fortan in der Verwaltung der Streitkräfte.
Die schrecklichen Kriegserlebnisse – vorbei und vergessen? Keineswegs. Ein Psychotrauma hat sich in sein Erbgut regelrecht eingebrannt. Die seelische Verletzung ist nicht nur auf einmalige Reizsignale (Schüsse, Explosionen, Schmerzensschreie, Angst oder Stress) beschränkt, sondern wirkt dauerhaft nach. Andere Reize, die den Erlebnissen auf banale Weise ähneln wie der Knall eines Luftballons, der Schrei eines Kindes oder eine Schnittwunde können den epigenetischen Schalter quasi umlegen, so dass der Betroffene aus unerklärlichen Gründen plötzlich "austickt".
Unbewusste Weitergabe von traumatischen Erlebnissen
Sollte der Soldat irgendwann Kinder zeugen, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass er sein Trauma an sie weiterreicht. Psychotraumatologen bezeichnen diese überaus komplexen Vorgänge auch als transgenerationale Traumatisierung: eine unbewusste Weitergabe von seelischen Verwundungen. „Wenn die Eltern vom Krieg betroffen waren, dann haben ihre Kinder ein signifikant höheres Risiko, eine Trauma-Folgestörung zu entwickeln“, erläutert der Psychotraumatologe Günther H. Seidler.
Depression, Angstzustände und Panikattacken werden indes nicht nur auf der Gen-Spur weitergegeben. Psychische Eigenschaften und alltägliche Handlungsmuster werden auch interaktionell - also als ein wechselseitig aufeinander bezogenes Handeln von Personen übertragen. Günther H. Seiler zufolge prägt das Verhalten von Eltern und Großeltern das Verhalten der Kinder und Enkel. Wenn ein Elternteil wegen eines unverarbeiteten Traumas latent in Alarmbereitschaft sei und bei der kleinsten Anspannung durchdrehe, werde dies unbewusst an die Kinder weitergegeben.
Lebenslanger seelischer Ballast
Menschen tragen häufig ihr Leben lang solchen seelischen Ballast mit sich herum. Die Schreckensbilder, die Väter aus den Kriegen mit nach Hause brachten, haben sie an ihre Kinder, Enkel und Urenkel tradiert. Das Grauen der Konzentrationslager ist in den Genen und im Verhalten der Nachkommen der Holocaust-Opfer tief verwurzelt.
Und genauso werden die Erfahrungen von Flucht, Vertreibung und Tod heutige Flüchtlinge und ihre Nachkommen noch lange Zeit prägen und traumatisieren. „Generationen von Menschen wachsen heran“, sagt Psychiater Seidler, „die über lange Zeit geschädigt sein werden.“