Unsicherheiten in der Qualifikation verflogen
Noch in der Qualifikation am Vortag hatte Varfolomeev einen wackligen Auftritt hingelegt. Bei der Reifenübung war ihr das Gerät weggesprungen und von der Bodenfläche gerollt, sodass sie mit einem Ersatzreifen zu Ende turnen musste. Und auch ein Knoten im Band, den sie behände lösen konnte, kostete sie wertvolle Punkte. Dennoch war die zweifache Europameisterin Zweite der Ausscheidung hinter Raffaeli und noch vor Kaleyn.
Im Finale war dann von den Unsicherheiten nichts mehr zu sehen. Hochkonzentriert und mit scheinbar spielerischer Leichtigkeit präsentierte die ausdrucksstarke Gymnastin ihre mit Höchstschwierigkeiten gespickten Übungen. Nach drei Geräten lag sie schon 2,3 Punkte vor der Zweiten. Nach der abschließenden Bandübung schlug sie erleichtert auf den Boden und holte sich dann eine herzliche Umarmung ihrer Trainerin Yuliya Raskina ab.
"Ich kann kaum verstehen, was passiert ist", sagte die 42-Jährige und erinnerte an die unrunde Vorbereitung auf Paris: "Jeder Wettkampf war wie Olympia, genauso stressig, alle haben geguckt, alle haben kommentiert und prognostiziert, was möglich ist und was nicht. Es war wahnsinnig schwer." Und Varfolomeev ergänzte: "Von Anfang der Saison an wussten wir, dass unser Ziel nur die Olympischen Spiele sind. Die Wettkämpfe davor waren nur Probe."
Die Rhythmische Sportgymnastik ist seit 1984 in Los Angeles im olympischen Programm. Damals gewann Regina Weber als bislang einzige Deutsche eine Medaille. Die Mutter von Fußball-Nationalspieler Leroy Sané wurde Dritte.
Mit dem Olympiasieg hat Varfolomeev auch einen außergewöhnlichen Karriereweg vergoldet. Mit drei Jahren hat sie angefangen, wie ihre Mutter Rhythmische Sportgymnastik zu betreiben. Als Zwölfjährige kam sie zunächst ohne Eltern und ohne die Sprache zu sprechen, aus dem westsibirischen Barnaul nach Deutschland.
Dank eines deutschen Großvaters konnte sie die Staatsbürgerschaft wechseln. Inzwischen lebt sie mit ihrem Vater und ihrer Chihuahua-Hündin in Fellbach unweit von Stuttgart. Ihre Mutter ist weiterhin in Russland, war aber wie ihre gesamte Familie beim Gold-Coup in der Arena Porte de La Chapelle. "Auf jeden Fall hat sich alles gelohnt, denn das war meine Entscheidung allein, nach Deutschland zu kommen, um mein Ziel zu erreichen. Zuerst war mein Ziel nur Olympische Spiele und nach dem letzten Jahr hat man verstanden, dass man mehr von sich erwarten kann", sagte und verschwand in den Kreis ihrer Familie.