Auch diskutierte Vorstöße in Richtung des Atomkraftwerks Kursk bei Kurtschatow in knapp sechzig Kilometer Entfernung von der Grenze sind demnach bei einem ständig durch russische Luft- und Artillerieangriffe gefährdeten Nachschub unwahrscheinlich. Zudem braucht die ukrainische Armee kampffähige motivierte Soldaten, Panzertechnik und Artillerie dringend an anderen Frontabschnitten, wie viele vor allem ukrainische Beobachter kritisch anmerkten.
An den Erfolg der Operation, deren volles Ausmaß sich erst in den nächsten Tagen offenbaren dürfte, ist auch die weitere Karriere von Armeeoberbefehlshaber Olexander Syrskyj geknüpft, wie der Militärjournalist Mychajlo Schyrochow in Kiew meinte. Syrskyj hat das Kommando erst im Februar übernommen und geriet durch die ständigen Gebietsverluste in der Ostukraine zuletzt zunehmend in die Kritik.
Wie reagiert der Westen?
Im Mai hatten Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und US-Präsident Joe Biden einen Kurswechsel in der Ukraine-Politik vollzogen und den Einsatz gelieferter Waffen gegen Ziele in Russland erlaubt. Eine Bewertung des nun erfolgten ukrainischen Vorstoßes gab es von der Bundesregierung aber bis zum Freitagnachmittag nicht. Der Vorsitzende des Verteidigungsausschusses im Bundestag, Marcus Faber (FDP), sah im Falle eines Einsatzes deutscher Waffen kein Problem. "Mit der Übergabe an die Ukraine sind es ukrainische Waffen. Das gilt für jegliches Material – auch für die Leopard 2", sagte er der Funke Mediengruppe. Mit dem russischen Angriff auf die Ukraine sei das Territorium beider Staaten Kriegsgebiet, und der Einsatz der Waffen unterliege den Bestimmungen des Völkerrechts. Demnach hat die Ukraine in ihrem Verteidigungskampf auch das Recht, das Gebiet des Aggressors anzugreifen.
Was bedeutet der Gegenschlag für die Unterstützung des Westens?
Dass der grenzüberschreitende Einsatz das Blatt wenden könnte, scheint ausgeschlossen. Und doch bindet er russische Kräfte und lenkt womöglich auch von anderen Schauplätzen ab. Für die Ukraine ist es ein Etappenerfolg mit noch ungewissem Ausgang, für die Führung in Moskau allemal eine Demütigung. Der Westen hat stets betont, die Ukraine in ihren Entscheidungen bei ihrem Verteidigungskampf gegen den Angriffskrieg zu unterstützen.
Wie reagiert Russland?
Die russische Flugabwehr ist angesichts der ukrainischen Drohnen- und Raketenangriffe inzwischen im Dauereinsatz, unter anderem auf der annektierten Schwarzmeer-Halbinsel Krim. Wegen der schweren Kämpfe im Gebiet Kursk verstärkt das Verteidigungsministerium dort seine Truppen nun massiv. Der Ausnahmezustand wurde zu einem Notstand nationalen Ausmaßes hochgestuft.
Zugleich werden Luftangriffe gegen die benachbarte Region Sumy geflogen, die der Ukraine als Aufmarschgebiet für ihren Vorstoß dient. Neben dem Kampf gegen die Angriffe aus dem Nachbarland setzt Moskau auch seine Attacken in den annektierten Gebieten Cherson, Saporischschja, Donezk und Luhansk fort. Das Verteidigungsministerium in Moskau meldet dort weitere Kampferfolge.
Was bedeutet der Vorstoß für Russlands Angriffskrieg?
Russland sieht sich so stark unter Handlungsdruck wie lange nicht mehr. Russlands Präsident Wladimir Putin hat den Krieg gegen die Ukraine auch mit dem Argument begonnen, für die Sicherheit und Stabilität seines Landes zu kämpfen, weil Moskau sich etwa durch einen geplanten Nato-Beitritt Kiews bedroht sehe.
Der Krieg trifft einmal mehr vor allem die Grenzregionen. Dort haben viele Menschen ihr Hab und Gut verloren, sind entsetzt und desillusioniert, wie sogar Behördenvertreter einräumen. Die Menschen müssen erneut zusehen, wie Putins Krieg auch ihr Leben bedroht und die Atommacht trotz der Beteuerungen des Kreml verwundbar ist.
Beobachter in Russland gehen davon aus, dass die neuen Probleme womöglich noch mehr Freiwillige für den Fronteinsatz mobilisieren. Schon zuletzt hatten die Regionen und auch Putin die Geldprämien für die Unterzeichnung von Verträgen für den Kriegseinsatz deutlich angehoben.
Was bedeutet die Lage für mögliche Friedensverhandlungen?
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sagte, dass das Land Verhandlungen für einen gerechten Frieden anstrebe. Sein Büroberater Mychajlo Podoljak meinte, dass Erfolge in Kursk die Verhandlungsposition stärken könnten. Moskau werde nur gesprächsbereiter, wenn der Preis des Krieges über "Verluste an Menschen, Kriegstechnik und Gebieten der Russischen Föderation" erhöht wird, sagte er im ukrainischen Fernsehen.
Aus russischer Sicht rücken die Verhandlungen in noch weitere Ferne. Das Land stellt sich auf einen sehr langen Konflikt ein. Der Vizechef des nationalen Sicherheitsrates, Ex-Präsident Dmitri Medwedew, meinte, dass sich die Ukraine nun auf noch mehr Gebietsverluste einstellen müsse – er nannte die Regionen Charkiw, Dnipro, Odessa und auch Kiew.