Das Bürgertum übernahm im Laufe der Jahrhunderte die adeligen Umgangsformen, in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg hatte sich das Siezen bis ins Familienleben hinein durchgesetzt. So war es im gutbürgerlichen ebenso wie unter materiell besser gestellten Bauersfamilien auf dem Lande üblich, dass Kinder ihre Eltern siezten. Akademiker siezten einander ohnehin, Studenten inbegriffen.
Bei der Sprachentwicklung gab und gibt es bis heute aber regionale Unterschiede. Das «Sie» als übliche Anrede unter Erwachsenen hat sich beispielsweise auf dem Lande in Bayern und in Tirol nie ganz durchgesetzt. Dort müssen manche Urlauber aus nördlichen Regionen heute noch schlucken, wenn sie unvermittelt von Fremden geduzt werden.
Und es haben sich Mischformen entwickelt, darunter das «Hamburger Sie» - die Anrede mit «Sie» und Vornamen - und umgekehrt das «Münchner Du» - Anrede mit dem Familiennamen bei gleichzeitigem Duzen. «Meier, komm mal her», nennt die Bamberger Professorin Stricker ein Beispiel.
Wird das Siezen in absehbarer Zeit aussterben? Mutmaßlich nicht, auch wenn weitere Unternehmen auf den Duz-Trend aufspringen sollten. «Das "Sie" ist derzeit klar auf dem Rückzug, allerdings nur in bestimmten Bereichen», sagt Stricker. «In offiziellen Kontexten siezt auch die jüngere Generation.»