Selbsthilfe in Hochfranken Zusammen ist man weniger allein

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Mit diesem Foto eines rheumakranken Mäd­chens­ auf einem Pferd hat Benedikt Ziegler, der selbst unter chronischer Ar­thritis leidet, einen Wettbewerb zum Thema „Das kann Selbst­hilfe“ gewonnen. Eine Wanderausstellung zeigt nun die interessantesten Werke im Wunsiedler Landratsamt. Foto: Benedikt Ziegler

125 Gruppen für Betroffene und Angehörige gibt es allein in den Landkreisen Wunsiedel und Hof,erklärt
Ulrike Beck-Iwens von der Diakonie Hochfranken, die einen Selbsthilfewegweiser anbietet und die Ausstellung „Das kann Selbsthilfe“ ins Landratsamt Wunsiedel holt.

 
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Krankheiten und Lebenskrisen lassen sich gemeinsam leichter meistern, deshalb sind Selbsthilfegruppen so beliebt. Allein in den Landkreisen Wunsiedel und Hof gibt es rund 125 Gruppen, sagt Koordinatorin Ulrike Beck-Iwens. Hier treffen sich Gleichgesinnte, um sich über Bewältigungsstrategien für ihre Krankheit oder ihre Probleme auszutauschen: Diabetiker finden das ebenso hilfreich wie psychisch erkrankte Menschen, Blinde, Alleinerziehende oder Angehörige von Suchtkranken.

Wie wichtig diese Gruppen sind, verdeutlicht jetzt die Fotoschau „Das kann Selbsthilfe“ im Wunsiedler Landratsamt. Die Diakonie Hochfranken holte diese Wanderausstellung bis Ende Oktober ins Fichtelgebirge. Der Ersatzkassen-Verband hatte einen bundesweiten Fotowettbewerb zum Thema ausgelobt. Aus den eindrucksvollsten Werken entstand die Schau, die klarmacht, dass es Perspektiven braucht, die Wege aus der Isolation weisen – getreu dem Titel des Bestseller-Romans von Anna Gavalda: „Zusammen ist man weniger allein“.

Eingebettet ist die Ausstellung in die 13. hochfränkischen Wochen der seelischen Gesundheit mit etlichen weiteren Angeboten in den Landkreisen Hof und Wunsiedel. Ulrike Beck-Iwens erklärt, was es damit auf sich hat.

Was ist das Ziel der hochfränkischen Wochen der seelischen Gesundheit?

Das Programm möchte öffentlich auf psychische Erkrankungen hinweisen, um einen offenen und toleranten Umgang mit Menschen mit psychischen Erkrankungen zu fördern. Daher ist es wichtig, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen. Der Oberbegriff psychische Gesundheit spricht uns alle an, das Programm soll präventiv wirken. Wenn also jemand oft depressive Verstimmungen hat, kann er sich jetzt unverbindlich einen Fachvortrag oder Film anschauen. Es ist eine Einladung, sich damit zu beschäftigen.

Ist der Ansatz bewusst niedrigschwellig – ohne Arztbesuch und Überweisung?

Genau. Sobald mich Themen interessieren oder berühren, kann ich einfach hingehen. Dazu gehören auch Fragen zu Demenz und Pflege, die viele Familien in irgendeiner Form betreffen. Jeder, der das Gefühl hat: Das wollte ich schon lange mal wissen, kann sich jetzt im Programm etwas herauspicken.

Was ist Ihre Aufgabe dabei?

In Hochfranken hat sich ein regionales Aktionsbündnis gebildet, das die Wochen der seelischen Gesundheit organisiert. Ich bin Mitglied in der psychosozialen Arbeitsgemeinschaft Hof – Wunsiedel. Deshalb habe ich in Kooperation mit Carina Stielke vom Gesundheitsamt Wunsiedel die Fotoausstellung „Das kann Selbsthilfe“ des Verbands der Ersatzkassen ins Landratsamt geholt. Junge Fotografen bebildern ein breites Spektrum an Bewältigungsstrategien.

Gibt es in der Schau ein Foto, das Sie besonders berührt?

Das Siegerbild, bei dem es um Rheuma-Erkrankungen geht. Benedikt Ziegler, der das Foto gemacht hat, ist selbst betroffen. Er leidet seit 15 Jahren unter juveniler chronischer Arthritis – ebenso wie die junge Rheumatikerin, die er monatelang begleitet hat, um ihre Gefühle und besondere Momente des Gemeinschaftslebens einzufangen.

In Deutschland leben dem Bundesverband Kinder-Rheuma zufolge 15 000 Kinder und Jugendliche mit chronischen entzündlich-rheumatischen Erkrankungen. Jedes Jahr kommen 1000 neue Patienten unter 16 Jahren hinzu. Benedikt Ziegler stellen einen Janosch-Dialog aus „Komm, wir finden einen Schatz“ neben das Foto des auf dem Pferd liegenden Mädchens: „Warum gehst du so krumm, Tiger?“, fragte der kleine Bär. „Ich bin so unglücklich, Bär.“ „Dann steig’ auf, ich trag’ dich ein Stückl.“

Wie viele Selbsthilfegruppen zählen Sie in den Landkreisen Hof und Wunsiedel?

Es ist natürlich immer ein Wechsel drin, aber wir bewegen uns bei 120 bis 125 Selbsthilfegruppen. Wichtig zu wissen ist: Wir erfassen im Selbsthilfewegweiser der Diakonie Hochfranken nicht nur die gesundheitsbezogenen, sondern auch die sozialen Selbsthilfegruppen. Der Bereich Gesundheit ist ebenfalls weit gefächert und reicht von chronischen Erkrankungen über Sucht bis hin zu psychischen Erkrankungen.

Die Selbsthilfe lebt vom Ehrenamt: Das ist ein wertvoller gesellschaftlicher Beitrag – eben die vierte Säule im Gesundheitswesen. Wir sind die Ansprechpartner in der Kontaktstelle – nicht diejenigen, die die ehrenamtliche Arbeit machen. Die Ausstellung zeigt, wie vielfältig die gemeinschaftliche Selbsthilfe ist.

Für welche Krankheiten finden sich sehr viele Gruppen und wo sehen Sie Lücken?

Im Bereich Sucht haben wir ein sehr breites Spektrum, dazu gehören auch Gruppen für Angehörige oder für Betroffene, die ihren Führerschein verloren haben. Ebenfalls hoch ist die Zahl der Tumorerkrankten, die Anschluss an andere Krebs-Patienten suchen. Oft fragen auch Angehörige von psychisch Erkrankten nach Gruppen. Leider fehlt dieses Angebot aktuell bei uns. Das ist schade, denn deshalb müssen Betroffene weit fahren, um sich austauschen zu können.

Verändert die Pandemie die Nachfrage?

Corona hat die Anfragen nach Gruppen mit den Themen Depression und Sucht verstärkt. Deshalb sind wir froh, dass aktuell Gruppen dazukommen: eine Sucht-Gruppe in Marktredwitz, im Dezember eine Depressions-Gruppe in Hof, ebenso anonyme Alkoholiker, die nach einer Pause wieder in Hof aktiv sind, sowie „Narkotics Anonymus“. Wer dazu Fragen hat, kann sich an die Kontaktstelle wenden – also an mich.

Gibt es auch Gruppen, die Corona zerstört hat?

Tatsächlich gibt es Menschen, die sich sehr lange trafen, aber in der Pandemie beschlossen: „Wir stellen uns nicht um auf digitale Treffen“ und sich aufgelöst haben. Aber die meisten Gruppen haben Wege gefunden, damit umzugehen – obwohl es ein Riesenproblem ist, das viel Flexibilität und Verantwortung verlangt. Kein ohnehin chronisch Kranker möchte sich schließlich bei einem Selbsthilfe-Treffen zusätzlich gefährden. Toll finde ich daher, wie unglaublich verantwortungsvoll die Ehrenamtlichen das lösten: Sie organisierten zum Beispiel Treffen draußen oder nur mit Einzelnen. Klar gemacht hat die Pandemie aber auch den großen Unterschied zwischen einem Austausch im Internet und dem, was reale Treffen in Selbsthilfegruppen vermögen.

Was leisten Selbsthilfegruppen?

Sie bieten Gemeinschaft und Zusammenhalt von Betroffenen für Betroffene, darüber hinaus aber auch Informationen. Sehr viele Selbsthilfegruppen wissen sehr gut Bescheid über Fragen zur jeweilige Erkrankung wie: „An wen kann ich mich wenden?“ „Wie gehe ich damit um?“ Außerdem steht die Gruppe Mitgliedern zur Seite, die eine Krise haben, und bietet Ablenkung. Es werden Ausflüge unternommen, und man möchte miteinander auch Spaß haben. Es geht immer darum, sich gegenseitig zu unterstützen.

Helfen Sie Betroffenen, die neue Gruppen gründen wollen?

Ja. Ich frage nach: „ Sind sie selbst betroffen?“ „Was für Vorstellungen haben Sie?“ „Sind Sie allein?“ Sinnvoller ist, wenn zwei oder drei sich zusammentun. Schwierig wird es, wenn jemand eine Selbsthilfegruppe allein gründen will, um andern mit seinem Wissen zu helfen. Denn der Grundgedanke ist: Alle sind gleichberechtigt, vieles sollte möglich sein. Ich kläre mit den Initiatoren, wo und wann die Gruppe stattfinden und wie es funktionieren könnte – aber ohne vorzugeben, was sein darf und was nicht. Die Gruppe soll autonom sein, die Kontaktstelle kontrolliert nicht.

Ich selbst bin in der Regel mit den Ansprechpartnern der Selbsthilfegruppen in Kontakt, kenne aber weder die Namen aller Mitglieder noch ihre Anzahl. Helfen kann ich mit Infos, Räumen, digitalen Angeboten. Beratung bei der Finanzierung oder bei Krankenkassen-Anträgen für die Förderung gesundheitsbezogener Gruppen bietet meine Kollegin vom regionalen runden Tisch Hochfranken, Elisabeth Bode. Wenn gewünscht, vermittele ich weitere Hilfen: Wir arbeiten sehr gut mit der Suchtberatung und dem sozialpsychiatrischen Dienst zusammen; gut vernetzt sind wir auch mit vielen anderen Trägern.

Statements: Was Selbsthilfe kann

Jürgen Schöberlein, Psychosoziale Arbeitsgemeinschaft Hof – Wunsiedel
nennt das Netzwerk ehrenamtlicher Selbsthilfe unverzichtbar für die Vorbeugung. „Es ist mir seit 25 Jahren ein Rätsel, warum Politik und Gesellschaft mit viel Geld große Schäden beseitigen, aber sich davor scheuen, in die Prävention zu investieren.“ Verursache ein Erdrutsch am Berg Lawinen, sei zwar tatsächlich die Expertise von Fachleuten gefragt, aber „ wer vorher den Schutzwald pflegt, damit er tief wurzeln kann, verhindert Erdrutsche“, betont Schöberlein. Lasse man diesen Mechanismus allerdings außer Acht, spüre man die Konsequenzen spätestens dann, wenn fehlende Wurzeln zur nächsten Katastrophe führten.

Klaus Fiedler, Diabetiker-Selbsthilfe Hochfranken-Fichelgebirge
bezeichnet Selbsthilfegruppen als „vierte Säule des Gesundheitssystems“. Ohne diese Säule würde das Gesundheitssystem „längst nicht so funktionieren“. Überwiegend seien chronisch Kranke in den Selbsthilfegruppen zu finden, die wüssten: „Ich muss mich jetzt dauerhaft mit meinem Leiden arrangieren, denn es wird mich bis an mein Lebensende begleiten.“ Die Verantwortlichen in den Selbsthilfegruppen sind Fiedler zufolge selbst doppelt belastet : Sie managten ihr eigenes Leben mit einer chronischen Krankheit und engagierten sich trotzdem noch ehrenamtlich für andere Betroffene, denen sie Hilfe gewährten und sie auf ihrem Weg unterstützten.

Manuela Bierbaum, Geschäftsführerin der Diakonie Hochfranken
betont: „Netzwerke tragen dazu bei, dass man den anderen sieht.“ Corona habe die Selbsthilfe viel gekostet, viel sei verloren gegangen, wie die erhebliche Zunahme der Depressionen und Suchtkrankheiten zeige. Gut, dass es in Hochfranken neue Selbsthilfegruppen für diese Bereiche gebe. Bierbaum: „Jetzt hoffen wir alle, gut durch den Winter zu kommen. Denn Selbsthilfe lebt vom persönlichen Kontakt. Keine Kamera kann eine echte Begegnung ersetzen.“

Wunsiedels Landrat Peter Berek
hält den Erfahrungsaustausch in Selbsthilfegruppen ebenfalls für unverzichtbar – besonders „in einer Zeit, in der wir nicht wissen, was morgen passiert.“ Schlimm nennt Berek, dass aktuelle Bedrohungen, von Corona über Cyber-Angriffe bis hin zu kriegerischen Auseinandersetzungen, die schwächsten Glieder besonders belasteten.

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