Viele Betroffene reden nicht darüber
Die 49 Jahre alte SPD-Politikerin machte erst 2015 in ihrem Buch „Vater, Mutter, Stasi“ die sexuellen Übergriffe ihres Stiefvaters öffentlich. „Das war wahrlich kein leichter Weg», sagt sie. «Viele Betroffene reden auch nicht darüber, weil sie das Stigma „Opfer“ nicht haben wollen, gerade wenn sie erfolgreich im Beruf sind. Du hast immer Angst, dass die Leute denken, die ist psychisch nicht belastbar.“
Der Betroffenenrat plant im Herbst ein Dialoggespräch über den Tatort Familie - Marquardt zufolge der „Tatort, an dem es am meisten passiert“. Eine Schlüsselfrage sei, wie der Schutz von Kindern in Familien sicherzustellen ist. Das Gremium will eine gesellschaftliche Debatte zu Schutzkonzepten in Familien anregen. Für Kirchen oder Sportvereine gibt es bereits solche Konzepte.
Nicht wegsehen
„Die beste Prävention ist, dass nicht mehr weggesehen, nicht mehr ignoriert wird“, sagt die frühere Bundestagsabgeordnete, die sich um den Platz im Betroffenenrat beworben hatte und für das Gremium ausgewählt wurde. Jeder Einzelne müsse die Angst vor etwaigen falschen Beschuldigungen überwinden und sich bei Verdachtsfällen einmischen.
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) geht für Deutschland von einer Million Mädchen und Jungen jedes Jahr aus, die sexuelle Gewalt erlebt haben oder erleben. Das sind pro Schulklasse ein bis zwei betroffene Kinder. Es gebe das Klischee, dass sexualisierte Gewalt vor allem in schwierigen Familienverhältnissen stattfindet, sagt Angela Marquardt. Das sei nicht so: „Diese Gewalt passiert in der berühmten heilen Welt.“
Fallzahlen haben womöglich zugenommen
Fachleute gehen davon aus, dass die Fallzahlen bei sexualisierter Gewalt gegen Kinder - wie auch bei anderen Misshandlungsformen – während des Corona-Lockdowns zugenommen haben. In dieser Zeit seien Kontrollstrukturen weggefallen, sagt Miriam Rassenhofer vom Kompetenzzentrum Kinderschutz an der Universitätsklinik Ulm. Beratungsangebote und Hilfetelefone hätten mehr Anfragen erhalten. Betroffenen kann der Juniorprofessorin zufolge eine Traumatherapie helfen. „Man kann lernen, mit traumatischen Erfahrungen umzugehen und mit ihnen gut zu leben“, sagt sie.