Thurnau Lauter Glücksfälle

Michael Thumser
Gerhard Oppitz im Kutschenhaus des Thurnauer Schlosses: Nicht nur ein Lehrer-Schüler-, sondern ein Vater-Sohn-Verhältnis. Foto: Gabriele Fölsche Quelle: Unbekannt

Eine Koryphäe der "deutschen Klavierschule" eröffnet das Wilhelm-Kempff-Festival: In Thurnau folgt Gerhard Oppitz den Spuren seines väterlichen Lehrmeisters.

 
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Thurnau - Nicht einmal auf dem Konzertpodium sind Kunst und Künstler vor Angriffen aus der schnöden Außenwelt sicher. Zum Beispiel widerfuhr es dem weltberühmten Pianisten Wilhelm Kempff während eines Rezitals in Finnland, dass ein Terrier zu ihm an den Flügel huschte, um am Bein des Künstlers das eigene Bein zu heben. Kempff unterbrach sein Spiel und fing den Köter, sperrte ihn aus - und fuhr sodann in aller Ruhe fort. Humor war ihm gegeben, und eine Konzentration, die sich nicht erschüttern ließ.

Die Anekdote schrieb der Virtuose in seiner Autobiografie nieder, und als Einspieler war sie via Lautsprecher am Anfang des Klavierabends zu hören, mit dem das Wilhelm-Kempff-Festival in Thurnau begann. Dass es, nach einem erfolgreichen Probestart im vergangenen Jahr, am Donnerstag und Freitag stattfinden konnte, nennt sein Erfinder und Leiter Ingo Dannhorn bei der Begrüßung der 200 Besucher zu Recht einen "Glücksfall". Dem kleinen Thurnau steht es zu, sich mit solch großem Namen zu schmücken: Hier, im Schloss, verbrachte Kempff von 1945 bis 1955 zehn Jahre seines Lebens (das er, fast hundertjährig, 1991 in Positano beschloss). Um auf seinen Spuren zu wandeln, reiste nun, für den ersten, einen Solo-Abend, Gerhard Oppitz an.

Bei ihm ging der 44-jährige Pianist Dannhorn in die Lehre, so wie Oppitz sich stolz als Schüler Kempffs bekennt. Und mehr als nur ein Lehrer wurde der für ihn: Vom "Glücksfall" eines "Vater-Sohn-Verhältnisses" sprach er vor Festivalbeginn in einem Interview des Bayerischen Rundfunks (BR). Absichtsvoll habe er fürs Thurnauer Rezital ein Programm ersonnen, wie auch sein Mentor, als Altmeister der klassisch-romantischen "deutschen Schule", es hätte aussuchen können: Beethoven, Schubert, Brahms. Als einer der letzten Großinterpreten jener "deutschen Schule" gilt Oppitz, Jahrgang 1953 und international geachtet, selbst.

"Für das Poetische in der Musik", sagte er dem BR, "für die Bedeutung der Pausen, des leisen, des langsam-getragenen Spiels" habe das "Vorbild" Kempff sein eigenes Sensorium geschärft. Wie gründlich, das ist im Kutschenhaus des Schlosses zu vernehmen. So breitet Oppitz etwa das ausgedehnte Largo in Ludwig van Beethovens siebter Sonate extra "langsam" und "getragen" aus, überlegen, überlegend. Doch er lässt sich nicht erdrücken von zu viel Schwergewicht: Davor bewahren ihn seine robuste Dynamik und die stabilen Linien, mit denen er den Ereignisstrom einander fortzeugender oder abrupt wechselnder Gedanken formuliert. Von Tiefenspannung durchdrungen, geraten jene zehn Minuten zu einem von mehreren "Glücksfällen" des Abends.

Auch das zweite von Franz Schuberts "Drei Klavierstücken" D 946 ist so einer. In den Allegro-Sätzen, die es zügig rahmen, stellt Opitz Bangigkeit und Übermut, Zuversicht und Grabeshymnus, vitale Eile und Beinahe-Stillstand einander brechend gegenüber. Besagtem Mittelstück indes scheint er die Idyllik eines arglos-frohen Kinder- oder gefühlsseligen Wienerliedes zu verleihen - wären da nicht die beiden Moll-Abschnitte mit ihrem existenziellen Angstgefühl. Lustige Musik? Hier gibt sie sich als Täuschung zu erkennen.

Bewundernswert arbeitet der Musiker das Melos gleich nachdrücklich in der Ober-, Mittel-, Unterstimme aus. So viel Heftigkeit wie herbe Poesie regt sich in ihm; gleichwohl sieht man beides fast nur seinen Händen an: Die zucken oder segeln von den Tasten auf, verharren wartend über ihnen oder senken sich sondierend auf sie herab. Technisch gelingt ihm ohnehin fast alles - wenngleich ihm nach der Pause, bei Rhapsodien und Fantasien von Johannes Brahms, in seiner Leidenschaftlichkeit ein Quantum Klarheit verloren geht.

Beim "Molto passionato" aus Opus 79, auch wenn er's in die Dunkelfarben einer fatalen Ritterballade taucht, weiß er dennoch theatralisches Brimborium und Sentimentalität zu umgehen. Und im "Intermezzo" opus 116/4 entfaltet er, statt Herzschmerzlichkeit, einen intimen inneren Monolog, dessen Klänge seine gleichberechtigten Hände abschattierend edel kolorieren.

Brahms, als Dank für kaum enden wollenden Applaus, auch als Zugabe: noch so ein "Glücksfall". Friedvoll lässt Gerhard Oppitz das Andante-"Intermezzo" opus 118/2 strömen, ein Stück, von dem er weiß, dass es "dem großen Meister Wilhelm Kempff sehr am Herzen lag". Da liegt es bei ihm auch: Es kommt von dort.

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