Ukraine-Tagebuch „Die Ukrainer verstecken sich nicht, sie sitzen im Café“

Thomas Simmler

Der Luftalarm als Warnung vor Drohnenangriffen gehört mittlerweile zum Alltag, berichtet Thomas Simmler, der gerade im Westen des Ukraine lebt. Auch der Verzicht auf Energie ist dort zur Normalität geworden.

 
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Ich kann nur lachen, wenn im deutschen Fernsehen gezeigt wird, wie der arme Bundespräsident wegen Luftalarm in einem Bunker in Kiew sitzen muss. Die reinste Ironie. Hier herrscht dauernd Luftalarm. Aber die Ukrainer verstecken sich nicht, sie sitzen draußen im Café. Interessiert hat der Besuch des deutschen Bundespräsidenten hier aber sowieso niemanden.

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Die Russen beschießen uns die ganze Woche. Vorgestern ging vier Mal der Luftalarm, gestern ein Mal. Für die Menschen ist das mittlerweile Alltag geworden. Man geht los zur Bank, auf halbem Weg geht die Sirene los, die Bank schließt. Aber die Leute gehen nicht in einen Luftschutzbunker oder in ihren Keller, sondern warten vor der Bank, dass sie wieder öffnet. Obwohl ja keiner weiß, wie lange der Luftalarm anhält. Die Menschen haben die Angst davor verloren. Ein Geschäftsmann, den ich seit Jahren kenne, lässt seinen Laden mittlerweile auch offen, wenn die Sirene geht. Immerhin ist man durch den Alarm auch vorgewarnt, anders als bei Artilleriebeschuss. Deswegen habe ich auch mein Haus im Süden der Ukraine verlassen. Da ist es wesentlich gefährlicher. Es gibt keine Vorwarnung, bis die Einschläge kommen. Wenn man das Zischen hört, ist es schon zu spät.

Das ganze Kriegsgeschehen stagniert gerade. Energie- und Stromsparen ist hier angesagt. Auf meinen Alltag wirkt sich das relativ wenig aus. Vier Stunden am Tag haben wir keinen Strom. Vor ein paar Tagen gab es 80 Kilometer entfernt Angriffe auf ein Stromkraftwerk. Geheizt haben wir bisher noch nicht. Das Gas wäre zwar da, aber die Leute halten sich an die Spar-Vorgaben. Das Wetter ist gut. Sonnig, 15 Grad. Mich würde interessieren, wie viel Prozent der Deutschen im Oktober auch nicht geheizt haben. Die Menschen hier machen sich natürlich Gedanken über den Winter. Es könnte ja immer noch schlimmer werden. Man macht sich auch Sorgen darüber, ob Putin bald auch wieder vom Norden aus, von Belarus aus angreifen wird. Was der Irre in Moskau machen wird, kann ja keiner wissen. Im Moment geht es uns hier noch gut. Aber ich habe schon darüber nachgedacht, ob ich nicht komplett nach Deutschland zurückgehe. Andererseits: Da gibt es ja auch große Probleme, in ganz Europa. Der Durchhaltewille der Ukrainer wird mit jedem Tag stärker. Das gäbe es in Deutschland nicht, da bin ich mir sicher. Nach so einem Angriff wäre bestimmt die Hälfte der Bevölkerung nach Afrika geflohen. Die Ukrainer haben einen ganz anderen Charakter.

Hans-Thomas Simmler aus Mainleus hält sich seit vielen Monaten in der Ukraine auf. Nach Angriffen der Russen in der Nähe des Atomkraftwerks Saporischschja ist er nun im Westen des Landes untergekommen.