Ukraine-Tagebuch „Manchmal vergesse ich den Krieg“

Thomas Simmler aus Mainleus (mitte) mit Tochter Sofia und deren Mutter Irina. Foto: privat

Im Westen der Ukraine wird der aus Mainleus bei Kulmbach stammende Thomas Simmler ganz anders mit dem Krieg konfrontiert als an der Südfront. Er erklärt, warum die Menschen trotz der jüngsten Erfolge der Armee nicht zu Euphorie neigen.

 
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Das hätte ich nicht für möglich gehalten: Manchmal vergesse ich den Krieg. Ich bin jetzt seit fünf Wochen in Truskawez im Westen der Ukraine – und damit weit weg von den Kampfgebieten. Mittlerweile kann ich nicht mehr begreifen, wie so viele Menschen im Frontgebiet bleiben, obwohl russische Raketen neben ihnen einschlagen. Und ich sage das, obwohl ich es lange Zeit genauso gemacht habe.

Wenn man so nah dran ist und das Gefühl „Das ist meine Heimat, mein Zuhause“ dazukommt, ist es natürlich schwierig, rational zu handeln. Verrückt ist es trotzdem. Unsere Tochter Sofia ist immer noch in Dnjepropetrowsk – mit ihrer Mutter bei deren Schwester. Dort gibt es regelmäßig Luftalarm. Ihre Heimatstadt Marhanez wurde zuletzt wieder zwei Mal angegriffen. Die Russen haben dort die Strom- und Wasserversorgung attackiert. Mittlerweile ist alles repartiert. Trotzdem ist es für mich schwierig zu verstehen, dass die beiden nicht mit mir in die Westukraine gekommen sind. Anfang September sind die Ferien zu Ende gegangen. Jetzt hat Sofia wieder Online-Unterricht. Hier dagegen gehen die Kinder wieder normal in Kita und Schule. Luftalarm gibt es so gut wie nie. Alle sind in Sicherheit. Der Krieg findet meist nur in den Nachrichten statt. In den Cafes läuft immer ein Sender, der sich den ganzen Tag mit dem Krieg beschäftigt. Freilich: Im Stadtgebiet sind auch hier viele ukrainische Soldaten unterwegs. Das gilt sogar für den Kurpark, der nur fünf Minuten von meiner Unterkunft entfernt ist. Truskawez ist ein bekannter Kurort am Fuße der Karpaten mit 30 000 Einwohnern. Früher kamen viele Russen hierher. Das hat nach 2014 abrupt aufgehört. Sie wären auch nicht mehr willkommen. Während in Marhanez alle Menschen auch russisch sprechen, kommt das hier praktisch nicht vor. Alles Russische ist seitdem verpönt.

Ab und zu werden die Leute auch hier konkret mit dem Krieg konfrontiert. Vor einigen Tagen zum Beispiel habe ich einen riesigen Menschenauflauf an der Kirche Sankt Nikolai beobachtet. Wie sich herausstellte, wurde da ein 22 Jahre alter Soldat beerdigt. Der Schock war vielen anzusehen und anzumerken.

Die jüngsten Erfolge der ukrainischen Armee lösen Freude aus. Euphorie kann ich aber nicht spüren. Das hat zwei Gründe. Zum einen hat jeder verstanden, dass die Russen unberechenbar sind. Ihre hinterlistigen Attacken, die Massaker – man weiß nicht genau, wozu die russische Armee und vor allem Putin noch fähig sind. Das andere ist: Ähnlich wie in Deutschland haben viele genug vom Krieg. Die Menschen wünschen sich nichts sehnlicher als Frieden, Sicherheit und Ruhe. Auch wenn das natürlich unrealistisch ist.

Hans-Thomas Simmler aus Mainleus hält sich seit vielen Monaten in der Ukraine auf. Nach Angriffen der Russen in der Nähe des Atomkraftwerks Saporischschja ist er nun im Westen des Landes untergekommen.

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