Gemeinsame Arbeitsbasis mit Schmidt
Eine besondere Beziehung verband ihn mit dem damaligen deutschen Bundeskanzler Helmut Schmidt. Giscard schien selbst etwas darüber erstaunt, denn er sagte einmal: „Den ersten Deutschen habe ich durch das Zielfernrohr eines Panzers gesehen.“ Auch politisch schienen die beiden Männer Welten zu trennen, doch der französische Rechtsliberale und der deutsche Sozialdemokrat fanden eine Arbeitsbasis, auf der sie mit großem Erfolg am Fundament der heutigen Europäischen Union weiterbauen konnten. Giscard nannte das Verhältnis der beiden Staatsmänner gerne eine „bonne entente“, Beobachter sagen aber, es sei eine wirkliche Freundschaft gewesen.
So wurde das Zusammenwachsen Europas zu einem zentralen Thema der Amtszeit Valéry Giscard d’Estaings. Die Ratstreffen der EU-Staats- und Regierungschefs gehen auf seine Initiative zurück. Zusammen mit Helmut Schmidt gilt Giscard zudem als Gründervater der gemeinsamen europäischen Währung. Er habe versucht, mit dem deutschen Kanzler etwas aufzubauen, erklärte Giscard gerne in der ihm eignen kokettierenden Bescheidenheit.
Allerdings ist der Franzose in gewisser Weise auch mitverantwortlich für den Brexit. Denn unter seiner Federführung entstand der Verfassungsentwurf, aus dem viele Passagen in den geltenden EU-Vertrag übernommen wurden – auch die Ausstiegsklausel aus der Union. „Die habe ich erfunden“, räumte Giscard in einem Interview ein. Er wollte damit den ewigen Vorwurf entkräften, die EU sei ein Gefängnis ohne Ausgang. Hat er, der große Europäer, also mit diesem „pro-europäischen Schachzug“ das Ende der Union eingeläutet? „Nein“, lautete seine energische Antwort. Niemand außer den Briten wolle die EU verlassen, zu groß seien die Vorteile der Gemeinschaft. Aus Ländern wie Polen, Ungarn oder Italien würden zwar Populisten die Drohung formulieren, sagte Valéry Giscard d’Estaing. Doch der Pragmatiker war immer überzeugt, dass am Ende alle „zu realistischeren Positionen“ zurückkommen würden.