Eigener Inhalt Der bewegte Mann: Von Kerlen in der Krise

Markus Brauer

Das traditionelle Rollenbild als Ernährer und Beschützer bröckelt. Die Freiheit, eine neue Rolle zu wählen, und die weibliche Konkurrenz überfordern viele Männer

 
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Er schlummert tief in jedem – der wilde Mann. Wer sein zivilisationsgeplagtes Ego hinter sich lassen und seinen ungezähmten, hemmungslosen Kern befreien will, kann in die archaische Welt der Schwitzhütten, des Holzhackens und der Männer-Camps eintauchen. Dort, wo Mann noch richtig Mann ist. Einfach ein Erlebnis-Coaching oder Abenteuer-Seminar buchen und den echten Kerl aus seinem Käfig lassen.

Das starke Geschlecht hat Revitalisierungskuren dringend nötig, denn es steckt in der Krise. Emanzipation und Frauenbewegung haben seine traditionelle Rolle als Brötchenverdiener und "Pater familias" ins Wanken gebracht. "Männer sind quasi die sozialpsychologische Problemzone des 21. Jahrhunderts", stellt der Trendforscher Eike Wenzel vom Institut für Trend- und Zukunftsforschung (ITZ) in Heidelberg fest.

Ende der 1960er-Jahre entstand in den USA die Männerbewegung. Mitte der 1970er-Jahre schwappte sie auch nach Deutschland in die studentische Sponti-Szene über. Damals redete man viel über Sexismus und Geschlechterrollen. Seitdem sind vielfältige Formen männlicher Selbstverwirklichung entstanden: Männerzentren, Männerberatungsstellen, Männertherapien und Männerforen, Väter-Gruppen und Männer-in-Kitas-Initiativen.

Zur Stärkung des Maskulinen werden mitunter recht bizarre Wege beschritten: schamanische Männerpfade und Herzenskrieger-Training, in denen Mann lernt, seine Energie und Urkraft "pur zu genießen", wie es auf einer männerbewegten Webseite heißt.

Die Kirchen bieten Expeditionen in die Tiefen männlicher Psyche genauso an wie private Vereine und kommerzielle Coaches. Bei Trommel-, Theater- und Tanzworkshops können orientierungslose Großstadtnomaden ihre emotionalen Rüstungen sprengen und ihr verschüttetes Mann-Sein freilegen. Initiationsriten wie die des US-Priesters und Bestsellerautors Richard Rohr ("Der wilde Mann"), der zur spirituellen Männerbefreiung aufruft, sollen verhindern, dass maskuline Energien von Sorgen des Alltags als Partner, Vater und Ernährer aufgesogen werden. Statt in Konsum und Konflikte sollen sie in Kraft und Kreativität fließen.

"Was Männer sollen und dürfen, ist zunehmend weniger eindeutig zu sagen", erklärt der Dresdner Psychologe Holger Brandes. Im Zuge der Frauenbewegung seien sie weicher und emotionaler geworden, während die Ansprüche der Frauen gewachsen seien. Die Berliner Soziologin Jutta Allmendinger sieht den Grund für die männliche Identitätskrise vor allem in der weiblichen Emanzipation. "Deutsche Männer geraten unter Druck. Frauen sind auf dem Weg, sie in vielen Bereichen einzuholen." Frauen erobern typische Männerberufe, besetzen Führungspositionen in Dax-Unternehmen, bekleiden wichtige Ämter in Gesellschaft, Politik und Wissenschaft.

Der Soziologe Rainer Volz und der Theologe Paul Zulehner haben das männliche Selbstverständnis genauer unter die Lupe genommen. "Der neue Mann ist empirisch nachweisbar", heißt es in ihrer Studie "Männer in Bewegung". 19 Prozent der Männer in Deutschland gehörten dieser Gruppe an. Sie seien aktive Väter, teilten partnerschaftlich Erwerbs- und Familienarbeit, gingen in Elternzeit und begrüßten Frauenrechte.

Bei traditionellen Männern (27 Prozent) seien die Rollen klarer verteilt: Der Mann verdient das Geld, die Frau kümmert sich um Haus und Kinder. 24 Prozent gehörten zu den balancierenden Männer, die als "formbare Sucher" herumlavieren. 30 Prozent der Männer seien Suchende, die noch nicht ihren Platz in Beruf, Familie und Gesellschaft gefunden hätten.

Die klassische Rollenverteilung ist ins Wanken geraten. Allerdings sieht der Schweizer Soziologe Martin Theunert, einer der Vordenker der Männerbewegung, keinen echten Wandel, sondern nur eine Erweiterung der Männlichkeitsrolle. Männer müssten nun auch einfühlsame Partner und fürsorgliche Väter sein. "Gleichzeitig werden sie auf der Gegenseite aber nichts los. Sie sichern das Einkommen, sind die breite Schulter in der Brandung und sollen Karriere machen. Karriere und gleichberechtigte
Kinderbetreuung sind aber unvereinbar."

Wenn Männer echte Sorgen haben, gehen sie in Männerbüros wie das Informationszentrum für Männerfragen in Frankfurt oder das "mannebüro" in Zürich. Hier erhalten sie Hilfe in Konflikt- und Krisensituationen, bei sexuellen Problemen, Trennung, Scheidung, Isolation oder Vater-Sohn-Konflikten. Wenn es im Leben von Männern drunter und drüber geht, könnte Unterstützung durch andere Männer hilfreich sein, betont Bernd Drägestein.

Der Pädagoge ist Gründungsmitglied des Instituts für Jungen- und Männerarbeit "mannigfaltig" in München. "Männer haben gemerkt, dass die Fragen der Zeit nicht mehr nur in der Skatrunde erörtert werden können." Seit mehr als 30 Jahren ist Drägestein in der Männerarbeit aktiv. In dieser Zeit hat er erlebt, dass immer mehr Jungen und Männer "aufgrund der sich auflösenden traditionellen Männerrollen verunsichert sind und nach Orientierung suchen" .

Die Strategien der Männerbewegung, die Geschlechtsgenossen aus der Krise zu holen, könnten unterschiedlicher nicht sein. Männer- und Vaterrechts-Bewegungen zum Beispiel wollen die Position von Männern stärken, weil der politische Einfluss des Feminismus zur Ungleichbehandlung geführt habe. Die Bilanz, die der Verein "MANNdat" zieht, klingt ernüchternd: Männer in Deutschland würden im Schnitt fünf Jahre früher sterben als Frauen. 94 Prozent der tödlichen Arbeitsunfälle betreffen Männer, da sie die gefährlichsten Berufe ausüben. Dreimal so viele Männer wie Frauen würden sich das Leben nehmen.

Männer sind die Verlierer der Emanzipation: Davon ist auch der Publizist und "Maskulist" Arne Hoffmann überzeugt. Jungen bekämen bei gleicher Leistung schlechtere Schulnoten als Mädchen, Männer würden öfter arbeitslos und seien durch das Scheidungs- und Sorgerecht benachteiligt. "Unsere Zivilisation beruht darauf, dass Männer zerschunden werden und ihren Schmerz verdrängen müssen – ob im Bergwerk, auf der Ölplattform oder an der Front." Hoffmann fordert ein Umdenken zugunsten der Männer. Man dürfe nicht länger so tun, als seien die "Forderungen von Frauen berechtigter als die von Männern".

Thomas Scheskat lehnt solche ideologischen Grabenkämpfe ab. Die Stärke der Männerbewegung sieht er in ihrer Pluralität und ihrem Pragmatismus. In seinem Göttinger Institut für Männerbildung und Geschlechterbegegnung können Männer ihr "Mann-Sein" wieder entdecken. "Mann sein ist etwas Tolles", so der Pädagoge. "Es bedeutet Befreiung von Einengungen und Zwängen." Männliche Identität sei wie ein "wildes Terrain", das es "per Expedition" zu erforschen gilt.

Männlichkeit | Die Definition, was Virilität (lateinisch "virilis", männlich) ist, hat sich historisch und kulturell stark gewandelt. Gemeint ist vor allem die männlich-erotische Ausstrahlung und Zeugungsfähigkeit. Wer mannhaft ist und seinen Mann steht, gilt als tapfer und potent. Als Sinnbild von Männlichkeit assoziiert man bestimmte physische Attribute wie Körpergröße, Muskulatur, tiefe Stimme, breite Schultern, markante Gesichtszüge und Brustbehaarung. Auch Charaktereigenschaften wie Mut, Risikobereitschaft, Abenteuerlust und Aggression zeichnen Männer aus, wobei sie sich soziokulturell oft stark unterscheiden.
Der moderne Mann | Der harte und starke Mann, der sagt, wo es langgeht – das war einmal. Der moderne Mann ist einfühlsam und sensibel. Damit aus ihm keine Memme wird, muss Mann um seine Stärken und Schwächen wissen.
Erziehung | Laut Statistischem Bundesamt ist die überwältigende Mehrheit der erwerbstätigen Väter (94,4 Prozent), aber nur eine Minderheit der Frauen (30 Prozent) in Vollzeit beschäftigt. Erziehung ist weiterhin eine Frauendomäne: 91 Prozent der knapp 1,7 Millionen Alleinerziehenden sind weiblich. Aber immer mehr Väter nehmen eine berufliche Auszeit und kümmern sich um die Kinder. Die meisten entscheiden sich jedoch für eine kurze Bezugsdauer des Elterngeldes. Im Schnitt erhielten sie es für 3,5 Monate, bei den Müttern waren es 13,3 Monate.
Maskuline Hypochondrie | Allen feministischen Spöttereien zum Trotz ist dies eine ernst zu nehmende Krankheit. Mann leidet unter der Angst, krank zu sein, ohne dass es dafür einen organischen Befund gäbe. Männliche Hypochonder schlurfen mit Leidensmiene umher, fühlen sich zu schwach, um sich aufzuraffen und die gefühlt letzten Augenblicke sinnvoll zu nutzen.
Mann und Schnupfen | Damit sollte Mann nicht spaßen. Was mit einem leisen Kratzen im Hals anfängt, wird schnell zu einem als elend empfundenen Zustand, über den permanent gejammert und schwadroniert wird. Eben noch ein Held, sehnt Mann sich nach femininem Trost und Zuspruch. Er verfällt in Selbstmitleid, was der genervten Partnerin einiges an Geduld abverlangt.
Abdominales Ego | Abdomen meint in der Medizin den Bereich des Rumpfes zwischen Brustkorb und Becken. Dass das Ego des Mannes an seinem Bauchumfang hängt, ist unbestritten. Je größer der abdominale Umfang ist, desto größer ist die Sehnsucht nach einer stark ausgeprägten Bauchmuskulatur mit wenig Fettgewebe.
Männliche Melancholitis | Der Blick ist grimmig, die Hand zur stahlharten Faust geballt, jede Faser aufs Äußerste gespannt. So sehen echte Männer aus – zumindest im Kino: John Wayne als Teufelshauptmann, Clint Eastwood als Dirty Harry, Russell Crowe als Gladiator. Und der moderne Mann? Er leidet an maskuliner Melancholitis, ist anschmiegsam, gefühlvoll und verständnisvoll.
Memme und Macho | "Ein Indianer kennt keinen Schmerz." Alles Klischee? Forscher haben nachgewiesen, dass Männer von Natur aus gar keine Memmen sind. Das Macho-Sein liegt in ihren Hormonen. Testosteron senkt das Schmerzempfinden, während es durch Östrogen gesteigert wird. Dadurch ist Mann kräftiger, aggressiver und schmerzunempfindlicher.
Echter Kerl | Er schlummert tief verborgen in der Seele eines jeden Mannes: der echte Kerl – stark und sensibel, hart und einfühlsam, draufgängerisch und besonnen. Seine Männlichkeit zu revitalisieren und den wilden Mann in sich zu befreien – das ist es, was der moderne Mann braucht, um sein zivilisationsgeplagtes Ego hinter sich zu lassen.
Softie-Syndrom | Die weibliche Erwartungshaltung ist heute sehr viel höher als früher. Moderne Frauen wollen alles zugleich: den sensiblen Frauenversteher und zarten Streichler, den Testosteron-Heroen und den stürmischen, nach Moschus riechenden Liebhaber. Viele Männer sind mit dieser multifunktionalen Rollenverteilung überfordert.
Weiche Seite | Der moderne Mann vermag Beruf und Familie auszubalancieren. Er teilt sich mit der Partnerin Haushalt und Erziehung, ist offen für weibliche Selbstverwirklichung, verständnisvoll und gesundheitsbewusst. Auch vergräbt er seine Gefühle nicht in den Hinterhöfen seiner Seele, sondern spricht offen mit ihr und anderen darüber.