Eigener Inhalt Rauf geht’s, Luftikus!

Wolfgang Plank
 Foto: AdobeStock

Klar gibt’s auch Carbon und vier Leinen. Aber warum nicht mal wieder selbst einen Drachen basteln?

 
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Da muss man gar nicht auf den Kalender schauen – spätestens wenn im Fernsehen für Halsbonbons und Schnupfensprays geworben wird, ist Herbst. Die Zeit, da überall Kastanien herumliegen und der Wind gelbe und rote und braune Blätter durch die Luft wirbelt. Ab da war als Kind beim Herumtoben warme Jacke angesagt, vor allem aber war es höchste Zeit, sich um einen Drachen zu kümmern. Groß musste er sein. Bunt selbstverständlich. Mit einem laaangen Drachenschwanz. Und natürlich selbst gebastelt. Nicht, weil es damals noch keine Versender gab, wo man ihn online hätte bestellen können. Sondern weil Eigenbau Ehrensache war.

Zugegeben, ganz ohne Anleitung aus irgendeinem vergilbten Heft ging es nur selten, und im Notfall konnte ein gerüttelt Maß väterlicher Grundkenntnisse in Sachen Aerodynamik und Materialbearbeitung nicht schaden. Wozu gab es schließlich das ganze Werkzeug im Keller, die Nägel und den Leim? Sollten sich die Langweiler doch ihre doofen Folien-Adler im Spielzeugladen kaufen. Anderntags würde man ihnen schon zeigen, wer den handwerklich Besten an der Leine führt.

Lange vor Xbox und Playstation war das Stoppelfeld die Bühne. Stundenlang starrte man fasziniert in den Himmel, wo der filigrane Luftikus hoffentlich immer mehr an Höhe gewann. Selbstverständlich weit weg von den Strommasten, vor denen man schon gewarnt wurde, noch bevor die erste Leiste gesägt war. Nur mit dem Leinen-Zwang, da war man doch gerne ein wenig großzügig. Von wegen hundert Meter. Das galt doch bloß für Streber und Angsthasen.

Wer auf sich hielt, knotete mehrere Rollen farblose Schnur aneinander – schon ging’s dahin, wo das fliegende Meisterwerk nur noch als Pünktchen wahrzunehmen war. Das zog dann schon ordentlich, die gefalteten "Briefchen" machten auf ihrer Fahrt nach oben Tempo, und manchmal rissen auch Seil oder Knoten, was den Schreiner des Vertrauens wieder zwei Leisten aus der Abfallkiste kostete, die Eltern einen neuen Bogen Wachspapier und uns anderthalb Stunden Arbeit. Aber um nichts in der Welt hätten wir uns zu dieser Jahreszeit vor einen Bildschirm gesetzt.

Warum also nicht noch einmal Hand anlegen? So wie früher – bloß mit dem Wissen von heute. Aber vielleicht eben doch Holz und Papier, statt Kohlefaser und reißfestes Nylon. Wenngleich mit modernem Material nicht jeder Sturzflug in einem Totalschaden endet.

Oder vielleicht doch zeitgemäß und einen Ticken schärfer? Wo früher eine einzige Schnur reichte, weil man den Drachen einfach nur möglichst lange in der Luft halten wollte, findet man heute schon mal Lenkdrachen mit bis zu vier Steuerseilen. Wer da geschickt zieht, wieder loslässt und vor allem den Überblick nicht verliert, kann den Luftikus zu spektakulären Schrauben, Drehungen und Loopings bewegen.

Wer’s noch ein bisschen toller treiben will – mit dem richtigen Drachen, einem ordentlichen Seil und einer gehörigen Portion Abenteuerlust kann man sich ziehen und sogar ein Stück in die Luft tragen lassen. Offiziell heißt das dann "Kiting". Geht zu Lande auf Rollschuhen, zu Wasser mit Brett oder hier wie da mit gepolstertem Hintern. Immer stramm vor dem Wind. Und stets mit dem Risiko einer unsanften Landung.

Und doch liegt im Papierdrachen über dem Stoppelfeld ein ganz eigentümlicher Reiz. Mit beruhigender Wirkung. Und wer ginge nicht lieber zum Schreiner als zum Stress-Therapeuten?