Eigener Inhalt Leid statt Like

100 000 Kinder und Jugendliche sollen hierzulande süchtig nach sozialen Medien sein. Und selbst Zweijährige, die am Smartphone spielen, sind laut Medizinern keine Seltenheit.

 
Schließen

Diesen Artikel teilen

Seit 24 Jahren treffen sich immer im Frühjahr Kinder- und Jugendärzte in Weimar zum Kongress für Jugendmedizin. Die Veranstaltung gilt als größte ihrer Art in Europa und widmet sich wichtigen Themen rund um das Erwachsenwerden. Eines der zahlreichen angebotenen Seminare hieß in diesem Jahr "Formen der Internet- und Computersucht". "Ginge es nach den Vorstellungen so mancher Unternehmen, können Kinder gar nicht früh genug damit beginnen, spielerisch mit Tablets und Handy umzugehen", kritisierte der Präsident des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte, Thomas Fischbach, gleich zum Auftakt des Kongresses. Aus seiner Sicht fördert die Politik die Digitalisierung in Kindergärten und Schulen "kritiklos".

Zweijährige, die mit einem Smartphone hantieren, sind nach Beobachtungen vieler Kinderärzte kein Ausnahmefall mehr. Und dass es zwischen exzessiver Mediennutzung und der Entwicklung von Kindern Zusammenhänge gibt, erleben die Mediziner täglich in ihrer Praxis, so Thomas Fischbach. Eine Studie seines Verbandes hätte gezeigt, dass bei 30 Prozent der Vorschulkinder, die länger als eine halbe Stunde pro Tag mit dem Smartphone oder am PC spielen, Sprachprobleme auftraten. "Das ist ein doppelt so hoher Anteil wie bei Kindern, die weniger Medien konsumieren." Für die Studie wurden 6000 Kinder in 80 Kinderarztpraxen in ganz Deutschland untersucht.

Hier gibt es Hilfe
Wie viel Internetnutzung ist noch normal – und wann ist jemand süchtig? In Zahlen lässt sich das nicht ausdrücken. Die Nutzung des Internets gehört für viele zum Berufsalltag oder dient der Unterhaltung. Problematisch wird es den Psychiatern zufolge, wenn sich die Nutzung nicht mehr kontrollieren lässt oder wenn jemand ohne Internet Entzugserscheinungen wie innere Unruhe verspürt. Eine Sucht erkennt man auch daran, dass der Betroffene bereit ist, Probleme im Job, in der Partnerschaft oder Familie hinzunehmen. Auch wer andere Lebensbereiche deutlich vernachlässigt, ist möglicherweise süchtig. Wer das Gefühl hat, eventuell betroffen zu sein, wendet sich am besten an eine Suchtberatungsstelle.
www.neurologen-und-psychiater-im-netz.org

Auch die Krankenkasse DAK hat sich in den vergangenen Monaten dem Thema Online-Sucht gewidmet. Ganz konkret hat man dort die Nutzung von WhatsApp, Instagram und Co. unter die Lupe genommen. Das Ergebnis: Rund 100 000 Kinder und Jugendliche sind abhängig von Social Media. Laut der Studie, die am Deutschen Zentrum für Suchtfragen am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf entstanden ist, verbringen Jungen und Mädchen zwischen zwölf und 17 Jahren durchschnittlich rund zweieinhalb Stunden täglich mit sozialen Medien. Spitzenreiter in der Nutzung ist WhatsApp, gefolgt von Instagram und Snapchat.

Auch ein Ergebnis der Untersuchung: Je länger und häufiger Kinder und Jugendlichen online sind, desto höher ist das Suchtrisiko. "Viele Kinder und Jugendliche chatten, posten und liken von früh bis in die Nacht", sagt Andreas Storm, Vorstandschef der DAK-Gesundheit. "Einige rutschen in die Abhängigkeit. Darauf müssen wir reagieren, damit Betroffene und ihre Familien Hilfe bekommen. Das Liken darf nicht zum Leiden werden."

Denn längst haben die Mediziner auch einen Zusammenhang zwischen Social-Media-Sucht und Depressionen festgestellt. Wer ohne soziale Medien kaum noch leben kann, hat demnach auch ein höheres Risiko, in eine Depression zu rutschen. Gleichwohl könnte es jedoch auch sein, dass sich depressive Kinder und Jugendliche häufiger in die virtuelle Welt zurückziehen und deshalb ein Suchtverhalten entwickeln. "In jedem Fall verstärken sich die beiden Faktoren, sodass eine ernste gesundheitliche Gefahr droht", heißt es in der Studie.

Vorbild sind die Großen
Wer den Jüngsten einen sensiblen Umgang mit den neuen Medien vermitteln will, muss selbst als Vorbild fungieren. Und gerade darin liegt oft schon ein Problem. Denn laut Zahlen des Bundesministeriums für Gesundheit haben auch immer mehr junge Erwachsene ein Onlinesucht-Problem. Neue Studie zeigen, dass Männer und Frauen dabei gleich häufig betroffen sind – allerdings sind sie von unterschiedlichen Medien abhängig.
77,1 Prozent der 14- bis 24-jährigen internetnutzenden Frauen sind hauptsächlich permanent in sozialen Netzwerken unterwegs. Nur 7,2 Prozent verbringen ihre Zeit mit Online-Computerspiele. Bei den Männern ist es hingegen umgekehrt. 64,8 Prozent zocken Spiele, nur 33,6 Prozent nutzen übermäßig soziale Netzwerke.
Und auch bei der Inanspruchnahme von Hilfe unterscheiden sich die Geschlechter: Obwohl Frauen und Männer nahezu gleich häufig internetbezogene Störungen aufweisen, nutzen deutlich mehr männliche Personen die inzwischen vielfältigen Beratungs-und Behandlungsangebote.

Eine Einschätzung, die man auch beim Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte teilt. "Wir können aber nicht sagen, ob Eltern ihre Kinder vor den Fernseher oder das Tablet setzen, weil sie zappelig sind – oder ob die Kinder zappelig werden, weil sie zu viel Zeit vor dem Medium verbringen", so der Verbandschef. Bei vielen Eltern sei jedoch der Irrglaube verbreitet, dass Kinder durch Medienkonsum besser sprechen lernen. "Kein Kind lernt jedoch vor dem Fernseher", betont der Sprecher der Kinder- und Jugendärzte, Josef Kahl. Auch deshalb habe sein Verband in den vergangenen Monaten Empfehlungen für die Eltern um achtsamen Gebrauch digitaler Bildschirmmedien formuliert.

Eben jene Handreichung gibt es seit Kurzem bereits bei den ersten Vorsorgeuntersuchungen beim Kinderarzt. Ein handlicher Flyer mit Erklärungen liefert Eltern Tipps, wie sie ihren Kindern von Anfang an den achtsamen Umgang mit digitalen Medien vermitteln können.

Zahlen der Bundesregierung
Auch die Politik hat sich längst mit dem Thema Internet-Sucht befasst. In einer von der Bundesdrogenbeauftragten Marlene Mortler (CSU) in Auftrag gegeben Studie zur Auswirkung des modernen Medienkonsums ist sogar von mittlerweile 600000 Jugendlichen und jungen Erwachsenen die Rede, die als internetabhängig gelten. 2,5 Millionen Menschen in Deutschland stuft das Gesundheitsministerium als "problematische Internetnutzer" ein. Demnach nutzen 70 Prozent der Kinder im Kita-Alter das Handy der Eltern mehr als eine halbe Stunde täglich, 90 Prozent von ihnen werden dabei nicht weiter kontrolliert.

Appell an Apple
Tony Fadell gilt es als Erfinder des iPod und hat auch an der Entwicklung des Apple-Smartphones mitgearbeitet. Jetzt macht sich der Amerikaner jedoch Gedanken über seine Arbeit. In einem offenen Brief an Apple fordert er den Konzern auf, etwas gegen die süchtigmachenden Aspekte der Geräte zu unternehmen. Das iPhone habe "unser Leben verändert", heißt es in dem Schreiben. Nun müsse Apple etwas gegen die "Überbenutzung" tun. Nicht soziale Netzwerke seien das Problem, dass immer mehr Menschen Zeit online verbringen, sondern die technischen Geräte selbst.
Fadell vergleicht die gesunde Smartphone-Nutzung mit gesundem Essen – auch hier gebe es Vorgaben, was und wie viel für jeden gut ist. Solche sinnvolle Empfehlungen müsse es auch fürs Smartphone geben – und zwar vom Apple-Konzern selbst. Das Unternehmen soll demnach Funktionen einbauen, die über das eigene Nutzerverhalten informieren. Auch Maßnahmen zur Reduzierung der iPhone-Sucht seien möglich. So könnten die Geräte laut Fadell in einen "Nur Lesen"-Modus oder einen "Nur Hören"-Modus versetzt werden. Die Entwicklung solcher Angebote sei nicht einmal teuer.


Fotos: dpa, AdobeStock

Autor