Veranstaltungstipps Bosse: "Die heutige Zeit ist hoch kompliziert"

Das Gespräch führte Olaf Neumann
 Foto: Tim Brüning

Bosse hat mit seinem neuen Album wiederholt die Spitze der Charts gestürmt. Wir sprachen mit dem Sänger über sein siebtes Werk und seine Kindheit auf dem Dorf.

 
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Welchen Sound hatten Sie sich für das Album „Alles ist Jetzt“ vorgestellt?
Ich habe mir von vornherein gesagt: Es gibt keine Grenzen! Jeder Song sollte diesmal bekommen, was er verdient. Völlig egal, ob das ein Beat ist oder ein altes Beatles-Schlagzeug. Es sollte so bunt sein, wie es nur geht. Dann habe ich Jochen Naaf und Tobi Kuhn angerufen; der eine steht für einen satten elektronischen Sound, der andere hat mit Feine Sahne Fischfilet und den Toten Hosen gearbeitet. Jeder Song auf der Platte hat das bekommen, was Tobi, Jochen und ich konnten.

Wie entstehen Ihre Songs?
Ich brauche immer einen Grund, einen Text zu schreiben. Über den Text kommt dann meistens die Musik. Und im besten Fall schreibe ich dann beides zusammen fertig.

Ist der Gesang bei einem Song das Wichtigste überhaupt?
Der Text ist auf jeden Fall ein Schwerpunkt. Diesmal fand ich auch die Rhythmussektion sehr wichtig. Ich habe im Studio immens viel Djembe und Bongos gespielt. Mit diesem Unterbau singe ich anders und finde andere Melodien. Ich war nie der Typ, von dem die Leute sagen, er hätte eine besonders tolle Stimme. Ich fühle mich eher als ein Texter, der seine eigenen Worte interpretiert.

Kostet es Sie manchmal Überwindung, vor Publikum zu singen?
Nein, ich singe richtig gern, aber ich gebe keine Garantie dafür, dass es nicht jemand gibt, der es besser macht. Ich muss schon einen guten Text schreiben, damit man meine Stimme richtig gerne mag.

Sie gelten als Autodidakt mit unverwechselbarem Sound.
Ich war nie auf einer Musikschule, ich habe mir fast alles im Proberaum beigebracht. Ich hatte aber mal Klavierunterricht und spiele gut Schlagzeug, weil ich das wirklich gelernt habe.

In „Alles ist jetzt“ singen Sie von „vielen dummen Menschen, die ihren Hass weitergeben“. Fühlen Sie sich verstrickt in diesen Hass?
Ich finde, dass die heutige Zeit eine hoch komplizierte ist. Es geht ein immenser Rechtsruck durchs Land und es herrscht eine große Unzufriedenheit. Gerade über die Montagsdemos war ich immer geschockt, wenn ich vor dem Fernseher saß. Die Reaktion darauf muss sein, Haltung zu zeigen und für ein buntes Land zu plädieren, für Mitmenschlichkeit und Empathie. Und das versuche ich auf dem Album hier und da. Ich bin sehr oft unterwegs und spreche viel mit jungen Leuten und mit Geflüchteten. Man muss miteinander kommunizieren, weil die Zeit, in der wir leben, sehr kompliziert ist. Die dümmsten Menschen waren schon immer Nazis. Und der ganze Rest, der da so mitläuft, muss bekehrt werden. Zumindest muss man es probieren. An den Menschen, die ich auf meinen Konzerten treffe, merke ich, dass da gerade eine Jugendkultur anfängt, sich zu politisieren. Die haben alle eine Haltung. Ich kenne viele 18-Jährige, die in die Politik gehen wollen, um Dinge zu verändern.

Hat sich bei Ihnen in letzter Zeit viel Wut aufgestaut?
Jeder schlimme Seehofer- oder AfD-Kommentar macht mich unfassbar wütend. Diese Wut kann ich mir aber zunutze machen, indem ich mich mit meiner Musik, in meinen sozialen Netzwerken und auf meinen Konzerten äußere. Damit kann ich etwas bewirken. Ich habe jetzt das erste Mal in meinem Leben richtig Haltung gezeigt mit einem Album. Meine Platten waren bisher höchstens mal gesellschaftskritisch geprägt, aber nie in diesem Maße. Irgendwann ist mir bewusst geworden, dass Dinge wie Pressefreiheit, Multikultur und Mitmenschlichkeit die Hauptgründe waren, warum ich Musiker geworden bin.

Ist Deutschland noch das Land, in dem es sich zu leben lohnt?
Ich habe schon in vielen Ländern gelebt und muss sagen: Deutschland ist ein Land, in dem man super leben kann. Es gibt hier viele tolle Leute, eine tolle Kulturszene, eine freie Presse, ein tolles soziales System, das sicherlich noch ausgebaut werden muss. In vielen anderen Ländern gibt es nicht mal einen ausreichenden Krankenversicherungsschutz. Die Altersversorgung in Deutschland muss aber noch besser werden, weil das einer der Hauptgründe ist, weshalb Leute unzufrieden sind und plötzlich anfangen, die AfD zu wählen. Trotzdem ist Deutschland ein sehr lebenswertes Land.

Wie schaffen Sie es, „cool zu bleiben bei dem ganzen Overkill“?
„Overkill“ ist ein Song, der vom Bummeln handelt. Ich habe den Tänzer Herrn Spiegelei von Deichkind eingeladen, mit mir den Text zu singen. Ich treffe ihn immer auf seinem Landsitz, das ist eine alte Holzhütte direkt am Kanal. Er schaukelt da immer in der Hängematte und erfreut sich des Lebens. Sein Bauch ist schön vollgefressen mit Sachen vom Grill. Ich bin auf dem Dorf aufgewachsen, ich sehne mich nach solchen Auszeiten im Grünen. Aber ich freue mich auch immer, wenn ich mich im japanischen Restaurant eines Freundes durchfressen kann und mich danach leicht angetrunken in einen Park lege.

Schneller, höher, weiter bedeuten Ihnen nichts mehr. Wofür möchten Sie sich gern mehr Zeit nehmen?
Besonders gut im Nichtstun bin ich immer dann, wenn ich ganz viel geschafft habe und der Körper sich nicht mehr so richtig bewegen kann. Bei Verschleißmuskelkater kann ich mich richtig entspannen und drei Tage lang nur irgendwo hingucken. Irgendwann fängt es aber wieder an zu kribbeln und ich muss etwas tun. Ich muss noch lernen, nicht zu früh unruhig zu werden. Aber vielleicht bin ich auch so gepägt.

Welchen Tribut fordert Ihr Beruf?
Ich verausgabe mich schon, aber ich versuche, nicht zu verkrampfen. Ich mache mir jeden Morgen nach dem Aufwachen bewusst, in was für einer luxuriösen Lage ich bin. Als 13jähriger Punker habe ich davon geträumt, irgendwann einfach nur noch Musik zu machen. Aber wenn man zu ehrgeizig ist, fängt man an zu verkrampfen. Ich arbeite schon permanent, aber ich warte auch darauf, dass mir etwas zufliegt. Manchmal kommt einfach ein Song um die Ecken geflogen, und man weiß gar nicht, warum man ihn geschrieben hat. Das hat viel damit zu tun, nicht zu verkrampfen.

Sie sind in dem Dorf Hemkenrode im Landkreis Wolfenbüttel aufgewachsen. Auf der Platte besingen Sie Ihre „Hometown“. Welche Orte Ihres Lebens werden Sie nie vergessen?
Das ist ein „Riechen-Fühlen-Erinnern“-Song. Wenn ich heute so durch mein altes Dorf tapse und rieche, wie die Nachbarin gerade etwas mit Speck kocht und wie die Wäsche in ihrem Garten nach Perwoll riecht, dann fühle ich mich wieder wie fünf und habe noch mein BMX-Rad. Und wenn ich in Berlin an meiner ersten Wohnung in der Revaler Straße vorbeigehe, ist da zwar noch mein Balkon, aber daneben stehen all diese komischen neuen Glasbauten, in denen Agenturen sind. Dann ist diese Gefühl irgendwie weg. In Hamburg habe ich lange auf St. Pauli gewohnt. Ich hätte unsere Straße mit verbundenen Augen am Geruch erkannt.

Hatten Sie eine unbeschwerte Kindheit in Hemkenrode?
Ich hatte eine herrliche Kindheit. In diesem Dorf wird gesoffen, wenn jemand geboren wird, und gesoffen, wenn jemand stirbt. Und sonst ist Schützenfest. In meiner ganz frühen Kindheit bin ich mit meinem BMX-Rad immer zum Bauern gefahren, der hieß Fritz Jordan. Er bekam dann einen Sohn, den er Michael nannte, ohne dass er je von dem gleichnamigen Baskettballspieler gehört hatte. Wir hatten also Michael Jordan im Dorf! Der war natürlich der King, als sein Namensvetter berühmt wurde. Ich habe in meiner Kindheit sehr viele Rübenblätter weggefahren und Felder geerntet, ich saß immer mit auf dem Tecker.

Waren Ihre Eltern Landwirte?
Nein, aber die Dorfgemeinschaft war so toll, dass alle Kinder immer beim Bauern mit auf dem Trecker sitzen durften. Wir hatten im Dorf Pferde, Kühe und einen super Wald. Ich hatte eine tolle Kindheit zwischen Schnitzen und Kühe umstoßen.

Wie kam der Punk nach Hemkenrode?
Als die Pubertät begann, schleppte mich mein zwölf Jahre älterer Bruder mit auf Konzerte. Ich habe da zwar noch bei meinen Eltern gewohnt, aber niemand auf dem Dorf hat meine Musikbegeisterung verstanden. Mit 13 hatte ich die Haare bis zum Hintern und wurde Mozart genannt. Hier und da gab es Backpfeifen und ich wurde zu einer Art Außenseiter. Aber im Jugendzentrum in der Stadt waren immer Leute, die genauso aussahen und auch Bock hatten, Musik zu machen und „Siddhartha“ gelesen hatten. Damals hing ich viel auf Konzerten ab von Bands wie The Bates und Biohazard.

Welches war Ihr erstes Konzert?
Das war wahrscheinlich Sisyphean Task oder die Shifty Sheriffs. Auf dem Dorf Lucklum gab es einen Laden namens Schlucklum. Dort hat man sich getroffen bei Konzerten von Terry Hoax oder irgendwelchen Amibands. Mit zwölf tanzte ich da meinen ersten Pogo. In unserem Nachbardorf gab es die Band Such A Surge, die nahm mich mit 14 als Backliner mit auf Europatour. Endlich konnte ich die Bands hinter der Bühne sehen, die ich immer gut fand. So bin ich aus meinem Nest rausgekommen.

Fiel es Ihnen schon immer leicht, Ihre Gefühle über die Musik auszudrücken?
Das fühlte sich von Anfang an natürlich an. Ich habe als Schlagzeuger angefangen, aber für meine Bands meistens auch schon getextet. Meine erste richtige Band hieß Des Nachts. Wir trugen Hüte und Fake-Brillen und haben intellektuellen Zupfkram gemacht. Unter anderem vertonten wir Gedichte von Else Lasker-Schüler. Und auf einmal hatte ich fünf Bands.

Heutzutage werden Stars über Marktforschung gemacht – man fragt die Leute, was sie haben wollen, und liefert dann. Ist die Musik insgesamt flacher geworden?
Man findet es immer flach, was sich in den Charts so tummelt, aber wenn man dann mal zurückschaut, war die Chartmusik eigentlich immer schon ganz schön flach. Ich erinnere mich noch gut an diese ganzen Boybands und die Eurodance-Welle, aber im Plattenladen oder auf Spotify finde ich immer noch genug tolle Sachen. Ein Weltwunder wie AnnenMayKantereit setzt sich auch ohne Marktforschung durch.

Haben Sie das Gefühl, dass Sie genügend Zeit hatten, sich zu entwickeln?
Ja, jahrelang. Entwickeln heißt ja, dass man in Ruhe das machen kann, was man möchte. Bis man irgendwann merkt, dass man das vielleicht anders machen sollte. Und dafür auch genug Zeit hat. Junge Bands denken heute, sie hätten überhaupt keine Zeit, aber ich sage denen immer, sie sollen erstmal 60 Nummern schreiben. Und vielleicht will deren Bassist ja doch lieber eine Ausbildung bei der Sparkasse machen. Ich persönlich hatte auf jeden Fall die Zeit, ganz viel zu spielen und ganz viel falsch zu machen. Ich habe trotzdem immer Alben veröffentlicht, die hat aber anfangs niemand gekauft. Ich habe bis heute locker über 1000 Konzerte gespielt. Zum Glück wurde ich nicht so schnell erfolgreich und konnte mich entspannt entwickeln.

Sind Konzerte für einen Musiker die größte Herausforderung, weil man zeigen muss, was man wirklich kann?
Die Königsdisziplin ist, sich locker zu machen und Freude zu haben. Auftritte sind für mich der Hauptgrund, weshalb ich mit der Musik angefangen habe. Mit Freunden auf der Bühne zu stehen, loszulassen und im Moment zu sein. Seit 16 Jahren schaue ich inzwischem meinem Gitarristen Thorsten in die Augen und weiß: jetzt passiert’s! Und wenn da Leute im Publikum sind, die das berührt, dann passiert da etwas Tolles. Konzerte haben einen hohen Suchtfaktor. Auf der anderen Seite steht das Schreiben, sich Gedanken machen und sich kitzeln.

Wie viele Gedanken machen Sie sich über Ihre Live-Show?
Wir haben keine Dramaturgie, wir sind in der Gestaltung sehr frei. Auch wenn die Hallen immer größer werden, soll es keine Lasershow sein, sondern eher Schülertheater. Bei uns wird es nie fett sein, das würde uns einschränken.

Sie sind seit einigen Jahre sehr erfolgreich. Wie groß ist da die Gefahr, dass man sich verkauft?
Diese Gefahr sehe ich bei mir überhaupt nicht. Die Herausforderung ist, es mit seinen Mitteln zu schaffen, so viele Leute happy zu machen. Wenn ich hier in Hamburg in der Großen Freiheit spiele, ist das etwas ganz anderes als in der Sporthalle. Aber ich will es schaffen, dass auch in der Sporthalle der Junge in der letzten Reihe noch einen Tropfen Schweiß abkriegt. Man muss so locker und präsent sein, dass auch 7500 Leute noch das Gefühl haben, mit dabei gewesen zu sein. Wenn das nicht funktioniert, sollte man wahrscheinlich wieder kleiner gehen.

Hatten Sie immer die Kontrolle über Ihr Leben und Ihre Karriere?
Ja, immer. Ich hatte auch schwere Zeiten, in denen ich bei einer Plattenfirma rausgeflogen bin, als ich gerade Vater wurde, aber am Ende hatte ich immer die Kontrolle über meine Songs. Nach diesem Reinfall kann mir niemand mehr irgendetwas vorschreiben.

Ist man als Künstler sehr verwundbar?
Je älter ich werde, desto entspannter werde ich. Ich bin sicher nicht der beste Sänger, aber trotzdem froh, dass ich das alles hier so machen kann. Für jeden Song, den ich fertig kriege, könnte ich mich besaufen, so froh bin ich darüber. Ich kann sagen, dass ich immer mein Bestes gebe. Dann ist man gar nicht mehr so richtig verwundbar.

Auf dem Album heißt es: „Was du träumst, das musst du machen!“ Braucht man viel Mut und Kraft, um seine Träume zu realisieren?
Genau das sagt der Song. Ich wollte einmal den Wasserstand durchgeben, wie es mir gerade so geht und was ich so mache. Die Quintessenz daraus lautet: Alles ist jetzt!

Bosse auf Tour

Der Sänger geht mit seinem neuen Nummer-eins-Album „Alles ist jetzt“ auf Tour und tritt am 25. März um 20 Uhr im Haus Auensee in Leipzig auf. Karten gibt es in unserem Ticketshop.