Veranstaltungstipps Heinz Rudolf Kunze: "Keiner weiß mehr, was wahr ist"

Das Gespräch führte Olaf Neumann
 Foto: Martin Huch

Heinz Rudolf Kunze hat mit „Der Wahrheit die Ehre“ ein neues Album gemacht. Er protestiert darauf unter anderem gegen Fremdenfeindlichkeit und Fanatismus.

 
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Ihre neue Platte eröffnet mit dem Song „Der Prediger“. Sind Fanatiker ein Zeichen unserer Zeit?
Ja. Viele Leute laufen rum wie mittelalterliche Sektenführer und glauben, die Wahrheit gepachtet zu haben. Sie denken, wer am lautesten krakeelt, gewinnt. Argumentieren ist ja nicht mehr angesagt. Allerdings könnte die B-Strophe „Ihr hört ja nicht zu / hört ja nicht hin / Begreift gar nicht, was ich euch sag“ auch von einem Sänger stammen. Da habe ich ein gewisses Mitgefühl.

Haben Sie Verständnis für den Zorn der so genannten Wutbürger?
Bis zu einem gewissen Grad ja. Die Enttäuschung über die Apathie der Regierenden bei uns und über deren intellektuelle Unterqualifikation ist groß, auch bei mir. Aber ich mache deswegen nicht mein Kreuz rechts, wie leider viele Wütende es tun. Als junger Mensch habe ich gedacht, ich werde eigentlich ganz gut regiert von den Politikern in unserem Land, die sind ja klüger und weiser als ich. Inzwischen habe ich aber das Gefühl, die haben überhaupt keine Ahnung. Das Personal der Regierung und Opposition halte ich weitgehend für intellektuell unterqualifiziert. Weil die guten Leute keinen Bock haben, sich von allen Seiten mit Dreck bewerfen zu lassen und lieber gleich in die Wirtschaft gehen. Erst wird die Bundeswehr zerstört und dann Europa. Gute Nacht!

„Wir alle sind Spießgesellen der Lüge und Profiteure vom Dreck“, heißt es in einem Song. Ist der Mensch mehr denn je sein eigener Feind?
Ja. Es ist ein Lied, das zurückgeht auf den einfach zu formulierenden Grundgedanken von Peter Sloterdijks „Kritik der zynischen Vernunft“. Darin heißt es: Warum wird alles immer schrecklicher? Ja, weil wir alle mit in diesem Boot sitzen und glauben, wir fallen als letzte den Wasserfall runter. Wir arbeiten alle mit am Untergang der Welt wider besseres Wissen.

Warum kriegt die Klima-Aktivistin Greta Thunberg eisigen Gegenwind, warum wird der mächtigste Staat der Welt von einem Mann regiert, der den Klimawandel für einen Schwindel hält?
Beides halte ich übrigens für furchtbar. Greta Thunberg ist ein junges Mädchen, das darf sich aufregen. Würde aber alles geschehen, was sie fordert, gäbe es einen dritten Weltkrieg. Sofort. Die Wahrheit liegt wie immer irgendwo in der Mitte. Aber ihre Aufregung als junger Mensch ist verständlich. Und wie es in Amerka dazu kommen konnte, dass ein unkontrollierbares wildes Tier der mächtigste Mann der Welt ist, das verstehe ich auch nicht. Wie konnte die amerikanische politische Klasse das zulassen? Aber vermutlich ist Trump nur eine dämliche Marionette, hinter der noch viel bösere Menschen stehen. Sie halten ihn, weil er nun einmal die Blöden an die Wahlurne kriegt. Ich glaube, Hitler hätte Trump vom Berghof jagen lassen, weil er ihm zu vulgär gewesen wäre.

Sie sagen, man müsse einen Krieg für die Wahrheit führen. Viele Menschen glauben, es gäbe geheime Organisationen, die Einfluss auf die Politik nähmen. Politiker und andere Führungspersönlichkeiten seien Marionetten von dahinterstehenden Kräften. Was machen Lügen und Fake News mit unserer Gesellschaft?
Diese Organisationen gibt es. Sie heißen z.B. BMW und haben bestimmt geheime Abteilungen. (lacht) Ich habe keine Ahnung, ob es diese Verschwörungen gibt oder nicht gibt, eines ist aber sicher: Obwohl wir in einer Zeit leben, in der man theoretisch alles wissen könnte, wird auf eine so raffinierte Weise Wahrheit vor uns verborgen, dass wir da gar nicht mehr durchblicken. Wir ertrinken in einem Meer aus Scheininformationen, Lügen, Propaganda und Hysterie. Eigentlich weiß keiner mehr, was wahr ist. Wir leben in einem digitalen Mittelalter. Wenn ich könnte, würde ich sehr gern in einer Zeit ohne Internet leben. Mir sind die Vorteile der modernen Technik klar, trotzdem sind die Menschen dümmer geworden. Als sie Bücher gelesen haben, waren sie klüger. Die Möglichkeiten des Schlechten überwiegen bei den neuen Medien tatsächlich das Gute. Aber ich kann den Kampf gegen Windmühlen nicht gewinnen.

Welche Regeln müsste man einführen?
Es muss eine ethische Übereinkunft geben über das, was im Internet erlaubt ist. Es muss auch Verbote geben und Möglichkeiten, Dinge zu löschen.

Die Friedenshymne „Mit welchem Recht“ ist ein Plädoyer für mehr Menschlichkeit gegenüber Geflüchteten. Wie könnte eine gute Flüchtlingspolitik aussehen?
Dieses Lied ist die Wiederaufnahme einer alten Frage von Norbert Blühm. Er hat schon vor zehn Jahren gesagt: Mit welchem Recht wollen wir einem schwarzen Mann verwehren, dorthin zu gehen, wo dessen Familie nicht verhungern und verdursten muss. Ich weiß auch, dass nicht alle Elenden nach Deutschland kommen können, aber es muss viel mehr dafür getan werden, dass sie daheim bleiben können. Wir geben Milliarden für irrsinnige Bauprojekte oder Waffen aus. Würde man dieses Geld sinnvoll einsetzen, könnte allein Deutschland unheimlich viel dafür tun, um dieses Elend zu bekämpfen. Und Europa als Ganzes könnte das Problem sogar spielend lösen.

Rechnen Sie mit Gegenwind von Rechts?
Ich rechne eher mit neuen Missbrauchsversuchen. Ich bin von denen schon mal gefickt worden. Indem sie mein Lied „Willkommen liebe Mörder“, welches sich gegen den NSU richtete, für sich benutzten. Allein diese Zeile hat ihnen gereicht, um es gegen Flüchtlinge auszulegen, wovon in diesem Lied nicht mit einer Silbe die Rede ist. Da fühlt man sich schon anal missbraucht. Ich hoffe aber, dass die überwältigende Mehrheit klug genug ist, um das zu durchschauen. Gegenwind habe ich bisher noch nicht erlebt, die Rechten kommen ja nicht in solche Konzerte. Interessanter wird es vielleicht mit der Reaktion auf Stadtfesten, wo das Publikum zufällig zusammenläuft.

Würden Sie unter Umständen mit Rechten reden?
Ich glaube nicht, dass das sinnvoll ist. Wahrscheinlich geht es auch gar nicht. Aber ich würde es vielleicht versuchen, insofern sie mir entwaffnet gegenüber treten.

Auch viele Menschen aus der bürgerlichen Mitte haben Angst, dass die Gesellschaft von Fremden unterwandert wird. Wie könnten Volksparteien diesen Menschen ihre Angst nehmen?
Indem sie sich wieder um ihre Wähler kümmern. Die SPD hat ihre Wählerschaft komplett vergessen. Der hart arbeitende kleine Mann und die hart arbeitende kleine Frau fühlen sich von dieser Partei nicht mehr abgebildet. Die SPD gräbt sich gerade selber das Grab, indem sie sich u.a. in Genderdebatten verliert, die ungefähr 0,0001 Prozent der Bevölkerung angehen. Auch die CDU ist auf dem besten Wege, an der Schwindsucht dahinzugehen. Natürlich ist es schwieriger geworden, in Zeiten eines extremen Individualismus eine Volkspartei zu sein, aber man muss den Wählern zuhören. Es wird seit einigen Jahren behauptet, wir würden von Islamisten unterwandert. Ich glaube, wir werden eher von den Chinesen unterwandert. Die werden in zehn Jahren hier alles gekauft haben. Das ist die wahre sanfte Revolution. Ein sehr intelligenter amerikanischer Freund von der Ostküste – das gibt es ja auch – sagte mir, die Amerikaner könnten gar keinen Krieg gegen China führen, denn halb Amerika gehöre ihnen schon.

Glauben Sie, dass man mit den richtigen Wörtern denjenigen, die ohnehin schon eine menschenfeindliche Neigung haben, die Hemmungen nehmen kann, Gewalt anzuwenden?
Möglicherweise, wenn es kombiniert wird mit der richtigen Musikwahl. Vielleicht kann im besten orpheus’schen Sinne ein Lied einen Menschen erweichen und gewisse Blockaden lösen. Am krassesten erlebt habe ich das vor 20 Jahren in Hamburg an einer jungen Gruftie-Punkerin – mit Rasierklinge im blauen Haar und Ratte auf der Schulter. Sie sagte mir, ich hätte ihr geholfen, Männer besser zu verstehen. Das hat mich sehr geehrt.

Das Lied „Pervers“ wurde inspiriert durch engstirnige Leute, die alle Menschen, die phantasievoll, bunt und offen leben wollen, als pervers und krank und degeneriert bezeichnen. Wundert es Sie, dass Sie im Jahr 2020 noch solch ein Lied anstimmen müssen?
Es geht in dem Lied nicht nur um sexuelle Vorlieben, sondern um das eigensinnig sein in jeder Beziehung. Was soll ich dazu sagen: Jimi Hendrix ist tot – Andrea Berg lebt. Wir sind kulturell nicht unbedingt weitergekommen. Mit Sicherheit waren wir schon mal in einer toleranteren und aufbruchsfreudigeren Zeit. Das hat auch mit Bildung zu tun. Heute hat man Leute, die vor dem Abitur noch nicht richtig lesen und schreiben können. Was will man da an Aufbruch und geistiger Freiheit erwarten!

Die Ballade „Die Dunkelheit hat nicht das letzte Wort“ schrieben Sie nach der Thüringenwahl, bei der die AfD zur drittstärksten Kraft wurde. Ein AfD-Gutachten von 2017 attestiert Björn Höckes Haltung „eine Wesensverwandtschaft mit dem Nationalsozialismus“. Wie gefährlich sind Politiker, die Provokation zum Stilmittel erhoben haben?
Politiker, die die Wahrheit zersetzen durch giftige Pilzkulturen von Lüge, Verschleierung, Verfälschung und Hass sind die größte Gefahr für die Demokratie überhaupt. Sie machen das sehr raffiniert mit Hilfe der neuen Medien und Möglichkeiten. Die Menschen haben immer noch die komische Eigenschaft, dass sie gerne alles glauben, was sie schwarz auf weiß sehen. Meine Freunde, die wirklich Lehrer geworden sind, sagen, dass Schlimmste heutzutage sei nicht irgendeine Rebellion in der Schule, sondern der Umstand, dass die Schüler jeden Scheiß glauben. Sie kommen gar nicht auf den Gedanken, dass das interessenbehaftet sein könnte, was man ihnen da vorlegt. Es steht da und es ist wahr. Das ist eine weit verbreitete menschliche Schwäche. Schon mein Vater, der Gemeinschaftskundelehrer war, hat jede Zeile, die über mich geschrieben wurde, geglaubt.

Wann haben Sie gemerkt, dass Sie anders sind als der Durchschnitt?
Ich habe mich schon als Kind für Literatur und Musik interessiert. Mit drei, vier Jahren habe ich meinen Eltern angeblich im „Zaubermantel“ Geschichten erzählt. Später, als das Gymnasium noch etwas von einem verlangt hat, hatte ich mit 1,4 das beste Jahrgangsabitur am Stauffenberg-Gymnasium in Osnabrück. Ich war aber kein Streber, mir fiel das einfach zu. Mein Schicksal war, ewiger Klassensprecher zu sein. Die wildesten Jungs auf dem Schulhof haben meine Nähe gesucht, weil ich begriff, dass auch sie manchmal Recht hatten. Bei der Noten-Inflation von heute schaffen Leute ein Einser-Abi, die in Wahrheit eine 4 minus verdienen. Ich kann das beurteilen, ich habe Lehramt studiert. Das deutlichste Barometer des Zustandes einer Gesellschaft ist für mich die Quizshow an sich. In einer Sat.1-Show mit Matthias Opdenhövel wurde grundsätzlich jedem Tollplatsch so geholfen, dass er mit viel Geld nach Hause gehen konnte. Eine Erdkundelehrerin hat nach mehrmaligem Nachfragen seitens des Moderators darauf bestanden, dass Rostock im Erzgebirge liegt. Solche Leute sind berichtigt, unserem Nachwuchs Noten zu geben! Da möchte ich Amok laufen.

Heinz Rudolf Kunze auf Tour

Der Sänger geht auf „Der Wahrheit die Ehre Tour 2020“ und gastiert am 16. Mai um 19.30 Uhr im Serenadenhof in Nürnberg sowie am 24. Oktober um 20 Uhr in der Stadthalle in Chemnitz. Karten gibt es in unserem Ticketshop.