Frankfurt/Main - Er hat einen Bekanntheitsgrad, der jeden Politiker vor Neid erblassen lässt: 98 Prozent der Deutschen haben schon einmal von Marcel Reich-Ranicki gehört. Um den berühmtesten Literaturkritiker des Landes, der heute 90 Jahre alt wird, ist es zwar etwas ruhiger geworden, doch "MRR" schreibt weiter seine Zeitungskolumnen. Und es kann immer vorkommen, dass er mit intellektueller Brillanz und voller polternder Streitlust eine Diskussionslawine lostritt.

Zuletzt geschah dies 2008, als er im ZDF vor laufenden Kameras den Deutschen Fernsehpreis ablehnte, weil er ein Zeichen gegen den täglichen "Blödsinn" auf der Mattscheibe setzen wollte. Dabei war es das Fernsehen, dass ihn mit dem "Literarischen Quartett" zum großen Entertainer machte.

Seine durchdringende, leicht krächzende Stimme und sein fuchtelnder Zeigefinger sind zum Markenzeichen geworden. Keiner kann Bücher so verreißen oder in den Himmel loben. Nie zimperlich, immer streitbar, manchmal aggressiv und schulmeisterlich, oft witzig und pointiert. Dazu ist "MRR" selbst ein großer Erzähler. Seine 1999 veröffentlichte Autobiografie "Mein Leben" hat sich millionenfach verkauft.

Reich-Ranicki wurde am 2. Juni 1920 in Wloclawek an der Weichsel geboren. Vater David war Kaufmann, ein polnischer Jude; Mutter Helene deutsche Jüdin. Nach dem Konkurs des väterlichen Betrieb siedelte die Familie 1929 nach Berlin um. In Deutschland durfte der Marcel nicht studieren - die Nazis wiesen ihn 1938 nach dem Abitur nach Polen aus. Im Warschauer Ghetto gelang ihm 1943 mit seiner Frau Tosia die Flucht. Beide überleben im Untergrund. Eltern und Schwiegereltern kamen in den Vernichtungslagern um.

Über die Tätigkeit in Polens kommunistischem Geheimdienst und im diplomatischen Dienst kehrte Reich-Ranicki 1949 zurück nach Warschau. 1950 wurde er aus seinen Ämtern entlassen, und aus der KP wegen "ideologischer Fremdheit" ausgeschlossen. Schon lange ein Liebhaber deutscher Literatur, begann er als Lektor und freier Schriftsteller zu arbeiten. 1958 kam er zurück nach Deutschland und machte sich als scharfzüngiger Kritiker bei der Zeit einen Namen. Von 1973 bis 1988 leitete er die Literaturredaktion der FAZ. Das große Publikum fand der Literaturpapst aber erst 1988, mit dem "Literarische Quartett" im ZDF: Von 1988 bis 2001 wurden unter seiner Moderation rund 400 Bücher besprochen und oft zu Bestsellern gemacht.

Der Einzelkämpfer "MRR" hat sich immer auch als Außenseiter verstanden. Bei Schriftstellern hat er sich mit seinen harschen Urteilen wenig Freunde gemacht - mit Günter Grass kam es erst im Oktober 2007 wieder zu einer Annäherung, als Reich-Ranicki ihn als "nach wie vor bedeutendsten deutschen Schriftsteller" bezeichnete. Eine Aussöhnung mit Martin Walser, der nach einem herben Verriss eines Romans im Jahr 1976 mit Reich-Ranicki brach, steht immer noch aus. Das Zerwürfnis gipfelte 2002 in Walsers Schlüsselroman "Tod eines Kritikers". Darin kommt ein jüdischer Literaturkritiker zu Tode, der unschwer als "MRR" zu erkennen ist. "MRR" möchte eine Entschuldigung von Walser. Um die jüngere deutsche Literatur-Szene kümmert er sich nicht mehr besonders. Aber er führt seine "Frankfurter Anthologie" fort: Pro Jahr erscheint ein Band mit 50 kommentierten Gedichten - der 34. ist in Arbeit.

Zum 90. Geburtstag wird der Literaturkritiker mehrfach gefeiert. Im Jüdischen Museum in Frankfurt ist eine Ausstellung zu sehen, für die Reich-Ranicki ihm persönlich gewidmete Bücher aus seiner Bibliothek zur Verfügung gestellt hat - von Ingeborg Bachmann und Heinrich Böll über Nelly Sachs bis zu John Updike. Am 6. Juni beehrt die TV-Prominenz den Jubilar: Nicht nur Thomas Gottschalk reist zur Verleihung der Ludwig-Börne-Medaille an Reich-Ranicki in Frankfurt an - das ZDF überträgt live. Man darf davon ausgehen, dass Reich-Ranicki dieses Mal die Huldigungen des Fernsehens gerne annimmt.