"Alles war gegeben", versicherte Thomas Mann später im Rückblick. "Gegeben" war: die "Sehnsucht nach der Ferne" und danach, sich während einer Ferienreise von den Strapazen der Schriftstellerei zu erholen; Venedig mitsamt seinen ungut dünstenden Kanälen, dem Scirocco, der Furcht vor grassierender Cholera; der Anblick eines unwirklich schönen Jungen aus Polen; das Hingezogensein des Dichters, den es im Verborgenen nach dem eigenen Geschlecht verlangt ... Selbst erlebt, alles. Nur "Der Tod in Venedig", der dem fiktiven Helden Gustav von Aschenbach am Lido widerfährt, den erlitt Thomas Mann nicht. Dafür vollzog er ihn, kurz nach seiner realen Begegnung mit dem jugendlich "zarten Gott", in einer seiner kunstvollsten Prosaschöpfungen nach.

Sünde und Erfüllung

Da war der Autor selbst noch keine vierzig. Gleichwohl stand er nicht an, sich in einem alternden Dichter zu spiegeln, freilich verfremdend, nur insgeheim. Seiner Figur mutete Thomas Mann einen Weltabschied zu zwischen Land und Meer, Nebel und Sonne, Sünde und Erfüllung. Im Tod, den der erfundene Schriftstellerkollege Aschenbach kurz und schmerzlos, sogar verzückt im Liegestuhl am Lidostrand findet, offenbart sich diesem preußisch disziplinierten Prosa-Produzenten eine Gestalt makelloser Jugend wie ein unbeschriebenes Blatt neuen Lebens und reinen Liebens. Als Aschenbach Wochen zuvor übers Wasser hier ankam, in der schwimmenden, seit Jahrhunderten sterbenden Stadt, die zu einer Art Jenseits für ihn wird, da dachte er: "Die Fahrt wird kurz sein, möchte sie immer währen."

Wollust des Untergangs

Der Ruhm der Novelle währt immer: seit hundert Jahre bereits. In der Neuen Rundschau erschien "Der Tod in Venedig" im Oktober 1912. Schon jetzt nutzt das Buddenbrookhaus in Lübeck das Jubiläum, den Text als eine der bekanntesten Arbeiten Manns zu würdigen. Die "Wollust des Untergangs", die sein Aschenbach sterbend verspürt, gab der Schau sinnvoll den Namen. Über Entstehung und Hintergründe der Meistererzählung informiert sie; obwohl Thomas Mann so wie sein tragischer Held der Meinung anhing, es sei "sicher gut, dass die Welt nur das schöne Werk, nicht auch seine Ursprünge und Entstehungsbedingungen kennt; denn die Kenntnis der Quellen, aus denen dem Künstler Eingebung floss, würde sie oftmals verwirren, abschrecken und so die Wirkungen des Vortrefflichen aufheben."

Wer die Schau als Leserwerbung für eines der vortrefflichsten Stücke deutscher Hochprosa versteht, darf fragen: Hat es das nötig? Irgendwie schon, vermutet Die Welt: Die Zeitung behauptete dieser Tage, der Text, arg in die Jahre gekommen, gelte heute weithin - und "mit Recht" - als bis zur Kunstgewerblichkeit "überinstrumentiert", als niedergedrückt von "unglaublichem geistesgeschichtlichem Aufwand", jedenfalls als "angestrengt". Glauben muss man das nicht. Anstrengend freilich ist "Der Tod in Venedig"; oder zumindest: frei von Gefallsucht. Zwar verlangt er vom Leser - unbeschadet seiner vielerlei mythologischen und philosophischen Bezüge - keine "unglaublichen geistesgeschichtlichen" Kenntnisse; aber Aufnahmebereitschaft und Ausdauer, ein Fingerspitzengefühl für die klassische Modernität einer mit Vorsatz retrospektiven Dichtersprache, ein inneres Ohr für ihren Klang und Rhythmus fordert er ein. All das verbietet schnelles Lesen; das sich hier überhaupt nicht empfiehlt: Wer sich auf Manns Stil einlässt, wird mit Hochgenüssen ästhetischer Vollendung belohnt und mit einer Geschichte, die durch psychologische Tiefe ebenso wie durch mitmenschliche Einfühlung bewegt und allemal durch Weisheit, was die Dinge des Eros und der Vergänglichkeit angeht.

Zu den "Quellen, aus denen für Thomas Mann "Eingebung floss", gehört besagte Reise, die der Autor 1911 nach Venedig unternahm: in "die schmeichlerische und verdächtige Schöne - diese Stadt, halb Märchen, halb Fremdenfalle, in deren fauliger Luft die Kunst einst schwelgerisch aufwucherte"; über eine späte Liebe Goethes wollte er hier zu schreiben beginnen. Und natürlich gehört zu den Quellen die Homosexualität, die der Ehegemahl und Familienvater von sechs Kindern in Dichtungen sublimierte und, unverhohlener eingestanden, in seinen Tagebüchern wegschloss. Im "Tod in Venedig" erzählt er, wie sein lebensabendlicher Protagonist, hoch geehrt, jedoch von lauter geistiger Pflicht am Münchner Schreibtisch schaffensmüde geworden, nach Flucht und Befreiung verlangt. Am Lido von Venedig - für Mann ein "ins Orientalisch-Fantastische gewendetes Lübeck" -, in der zeitlosen Stadt des überfeinert Erlesenen und seines Verfalls, findet er endlich ganz zu sich selbst: Denn er findet Tadzio dort und erkennt in der ätherischen Erscheinung des unwirklich reizvollen Knaben aus Polen jene vollendete Schönheit verkörpert, die er in seinem Schreiben bisher nicht zu fassen bekam.

Indem sich der Alternde seine "unerlasubte" Neigung für den stets fern, berührungs- und sprachlos bleibenden Jüngling eingesteht, bringt er sein Dasein ins Reine, Ungekanntem sich öffnend. Die würdige, verwirrte Seele des Dichters, der "apollinisch" sein geregeltes Arbeitsdasein streng der Vernunft geweiht hatte, erlaubt unvermittelt dem "Dionysischen" Zugang zu sich, dem Treiben der Sinne, dem Trieb, räumt der "Zügellosigkeit" den Triumph über die "Zucht" ein. Für Aschenbach offenbart sich in Tadzio die Form für die Idee naiver Vollkommenheit. Im überirdischen Willen, der solch "göttliches Bildwerk ans Licht treibt", findet er den eigenen Willen wieder, "wenn er aus der Marmormasse der Sprache die schlanke Form befreite, die er im Geist geschaut". Am Strand steht Tadzio schließlich schlank in der Sonne, und Aschenbach, dem sterbenden Beobachter, "war, als ob er dort draußen ihm lächle, ihm winke; als ob er, die Hand aus der Hüfte lösend, hinausdeute, voranschwebe ins Verheißungsvoll-Ungeheure".

Wie eine Halluzination

So endet die Erzählung; so endet auch die sechzig Jahre später uraufgeführte Oper, die Benjamin Britten nach der berühmten Vorlage schuf, als seine letzte; im März 2008 war das hochkomplexe Bühnenwerk in der Inszenierung durch Hermann Schneider wie eine Halluzination am Theater Hof zu erleben. Künstlertum, das sich im Tod vervollkommnet, Liebe, die sich in Gleichgeschlechtlichkeit erfüllt, Sehnsucht nach unanfechtbarer Wohlgestaltetheit: Auch für den englischen Komponisten waren dies Hauptthemen des Lebens und Schaffens, nicht anders als für den deutschen Erzähler. In beiden sammelte sich das "Gefühl, dass die Natur vor Wonne erschaure, wenn der Geist sich huldigend vor der Schönheit neige".

Anstößiger Stoff

So geht es in jenem faszinierend "anstößigen" Stoff gleichberechtigt um das anschaulich-materielle und um das ungreifbare Schöne. Die abstrakte Ton-Kunst, die der Musikverehrer Thomas Mann in seiner musikalischen Diktion hörbar macht, suchte und fand nicht allein in Benjamin Brittens Oper Entsprechung. Ohne Gustav Mahler und das Adagietto aus seiner fünften Symphonie wäre die kongeniale Verfilmung der Novelle durch Luchino Visconti nicht denkbar: nicht ohne die sich zögernd sammelnden, wie stillstehenden Harfen- und Streicherklänge, unter denen sich gleich zu Beginn auf der Leinwand ein Dampfer aus dem langsam sich lichtenden Morgendämmer der Lagune löst.

Auf ihm langt Aschenbach in Venedig an, im Utopia des Fernwehs, wo Magie und Menetekel sich decken. Hätte Aschenbach - den Thomas Mann dem Komponisten Mahler nachformte und den Visconti wieder in einen Tonsetzer zurückverwandelte -, hätte er bei seiner Ankunft die sachte Melodie voll Trauer und Ergötzung hören können, er hätte wohl gleich geahnt, dass Rückkehr für ihn nicht in Frage komme. "Der Tod in Venedig" erzählt, als Text wie in Tönen, von einem stillen Abschied, der ein Aufbruch ist, eine Verheißung, "ungeheuer".


Buch und Film, Schau und Tanz

Thomas Manns Meistererzählung ist in Buchform Buch preiswert als Einzelausgabe beim Deutschen Taschenbuch-Verlag zu haben (dtv Nr. 11266, 139 Seiten, 6,95 Euro).

Der Schauspieler Will Quadflieg liest sie in einer behutsam eingestrichenen Fassung auf einem Hörbuch der Deutschen Grammophon (2 CDs, Nr 415 733 2, etwa 17 Euro).

Die Verfilmung Luchino Viscontis hat Warner Home Video als DVD im Angebot (etwa 10 Euro).

Die Ausstellung "Wollust des Untergangs" im Lübecker Buddenbrookhaus ist noch bis zum 28. Mai zu sehen; im September kommt sie ins Literaturhaus in München.

Die Hamburger Staatsoper, in Kooperation mit der Ausstellung, zeigt am 6. und 9. März John Neumeiers Tanztheater "Tod in Venedig".